Wolfram Elsner – Wir brauchen eine kritische und vor allem friedliche Ökonomie

Von Milena Rampoldi, ProMos1aik. Anbei mein Interview mit Prof. Dr. Wolfram Elsner, dem ich herzlichst für seine Zeit danke. Prof. Elsner ist Hochschullehrer an derUniversität Bremen. Er ist Menschenrechtler, Friedensaktivist und Kritiker des Neoliberalismus und des Militarismus. Anbei erleben Sie ihn live während einer aussagekräftigen Rede bei der Veranstaltung vonDemokratie Jetzt von 2011. Er erklärt uns, wie Wirtschaft und Militarismus eigentlich nicht zusammenhängen sollten, aber es doch tun. 
Der Kolonialismus ist eines der großen Beispiele der Geschichte der Menschheit, in denen Eigentum militärisch abgesichert wurde. Dasselbe geschieht heute in den Diktaturen. Aber nicht nur…. Auch in allen „freien Ländern“ mit ihrer ungerechten Verteilung der Ressourcen.   
Wie man diese Welt nach den Recherchen zu solchen Themen aushält, ist auch eine zentrale Frage, die ihm viele stellen. Trost geben ihm die Aktivisten, die sich weltweit für ein besseres Lebensmodell einsetzen. Denn Krieg und Profit müssen nicht immer zusammenhängen. Wir müssen an einer Wirtschaft arbeiten, die friedlich und trotzdem erfolgreich ist.
Wir müssen kritisch sein und uns beispielsweise dem Militarismus an den deutschen Hochschulen widersetzen. Prof. Elsner zeigt uns, wie er dies selbst getan hat. Am Ende habe ich ihn noch auf die Spieltheorie und Varoufakis angesprochen, den er übrigens persönlich kennt.
 
Wie hängen Wirtschaft und Militarismus zusammen?
 
Eigentlich haben Wirtschaft und Militarismus nichts miteinander zu tun, denn menschliche Wirtschaft ist eigentlich etwas Friedliches – oder sollte es zumindest  sein, wie es allen Menschen eigentlich nur im Frieden, bei Zusammenarbeit und fairem Austausch gut gehen kann. Selbst der Kapitalismus ist nicht automatisch militaristisch, denn wir kennen durchaus kapitalistische Länder, die über lange Zeiten recht friedlich mit ihren Nachbarn gelebt haben und nie Kolonien hatten.
 
Erst wenn der Kapitalismus zum Monopolkapitalismus wird und große Konzerne ihn beherrschen, dann wird es gefährlich für den Frieden und für die Menschen. Denn dann verlangt die maximale Kapitalrendite, die sie in Konkurrenz zu den Monopolen anderer Länder erzielen müssen, nach dem Zugriff auf die Ressourcen (und oft auch auf die Absatzmärkte) fremder Länder. Wir kennen das seit mehr als zwei Jahrhunderten als Kolonialismus. Der Kolonialismus ging dann notwendigerweise mit Militärinterventionen einher (der bekannten „Kanonenbootpolitik“).
 
Kolonialismus wurde dann zum Imperialismus, weil das überschüssige Kapital, das im Inland keine hinreichende Verwertung mehr gefunden hatte, neue „Drogenspritzen“ in fremden Ländern brauchte. Und die Investitionen in fremden Ländern mussten mit Gewalt und Terror, also militaristisch abgesichert werden. An den Folgen von jahrhundertelangen Zerstörungen ihrer gewachsenen Strukturen durch Kolonialismus, Imperialismus und Militarismus (sowie entsprechende Korruption durch einheimische Diktatoren im Dienste der Imperialisten und Invasoren) leiden die Völker Afrikas, des Nahen Ostens, Südasiens und Lateinamerikas noch heute – und gerade heute wieder mehr als je.  
 
Denn erst nach mehr als vier Jahrzehnten Neoliberalismus und brutalster Umverteilung des Reichtums von unten nach oben, ist ein völlig degenerierter „Finanzkapitalismus“ entstanden, der ohne militärische Absicherung gegen die eigenen und fremden Bevölkerungen nicht mehr existieren kann. In den Händen der „1 Prozent“ und ihrer wenigen Duzend Finanz-Industrie-Konglomerate, die die Wirtschaft der Welt beherrschen (etwa die 40 größten beherrschen die Weltökonomie), ist inzwischen so viel Geldkapital zusammengerafft worden, dass dieses Geldkapital wie wahnsinnig nach Verwertung überall auf der Welt jagen muss. Nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (der „Zentralbank der Zentralbanken“) und Expertenschätzungen der kritischen Forschungsgruppe „globalresearch.ca“ gibt es inzwischen ca. 1,5 Billiarden (= 1.500 Billionen oder 1,5 Mio. Milliarden oder 1,5 Mrd. Millionen Dollar, eine Zahl mit 15 Nullen!) an vagabundierendem Geldkapital, das eine Maximalrendite sucht. Sie wollen immer noch ihre 20 oder 25% pro Jahr haben und gehen dafür jedes Risiko und jedes denkbare menschliche Verbrechen ein, Kriege, „humanitäre Interventionen“, Terrorismus, gigantische Lügen, „postfaktische“ Gehirnwäschen („fake news“) und entsprechende Provokationen jederzeit und überall auf der Welt eingeschlossen.
 
Wenn man bedenkt, dass das Weltsozialprodukt aber nur etwa 85 Billionen pro Jahr beträgt, kann man sich ausrechnen, dass eine durchschnittliche Rendite von nicht mehr als drei oder vier Prozent logisch noch erreichbar wäre. Daher stellen wir fest, dass die Umverteilungsspirale immer schneller und brutaler wird, vom Umverteilungskrieg unter den Kapitalen über die Verarmung der Menschen, der Arbeitslosen wie Arbeitenden, über die Verarmung des Staates und das Einverleiben des öffentlichen Vermögens bis hin zur Spekulation mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen sowie der Einverleibung ganzer Landregionen in Afrika, Asien und Südamerika („Land Grabbing“). Das gelingt aber nicht mehr ohne permanente Kriege überall.
 
Deshalb bereitet der Neue Imperialismus, den wir seit der Zerstörung der Sowjetunion erleben müssen, auch die militaristische Generaloffensive und den letzten großen atomaren Weltkrieg gegen die letzten beiden großen „Happen“ auf der Welt, die ihm noch nicht zu Diensten stehen, Russland und China, vor. Die USA bereiten in Europa ihre exklusive atomare Erstschlagskapazität gegen Russland vor, und der atomare Abfangschirm in Osteuropa und im Nahen Osten soll verhindern, dass Russland auch nur eine einzige Atomrakete als Gegenschlag aus dem eigenen Land heraus bekäme. Dafür werden Putsche organisiert, wie in der Ukraine, und dort wie in ganz Osteuropa, vom Baltikum bis zur Türkei und Israel rechtsextremistische und präfaschistische Regime installiert, die von Russlandhassern und in Osteuropa z.T. von Hitlerfanatikern durchsetzt sind. Sie helfen, unter Bruch aller internationalen Vereinbarungen und Zusagen nach 1990, den Strick um den Hals von Russland immer enger zu ziehen und – entgehen den fundamentalen Lebensinteressen ihrer Völker – den Atomkrieg auf europäischem Boden (bei minimalem Risiko der USA) möglich zu machen. Im Internet kann man ansehen, wie die USA und ihre europäischen NATO-Helfer, Deutschland, England, Frankreich und die Regierungen in den vielen kleinen abhängigen Staaten, den Atomkrieg auf Europa beschränken wollen, mit ihren etwa 830 Militärbasen, engst möglich aufgebaut rund um die Grenzen Russlands und Chinas.
 
Russland und China einzuverleiben wären die letzten beiden großen Drogeninjektionen für den verrottenden Finanzkapitalismus, der kein einziges Menschheitsproblem mehr lösen kann und in keinerlei Hinsicht mehr innovativ oder dynamisch ist, und würde ihm nochmal eine letzte Lebensverlängerung um vielleicht 30, 40 oder 50 Jahre bringen, bevor er an sich selbst zugrunde gehen und die Menschheit mit in den (wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und sicher auch atomaren) Abgrund ziehen würde. Deshalb wird konkret der Atomkrieg in Europa vorbereitet, und deshalb droht Trump, das „Nordkorea-Problem“ mit atomarem Erstschlag zu „lösen“, und deshalb machen die USA Militärmanöver mit 300.000 Soldaten an der Grenze zu Nordkorea, und deshalb droht Trump aktuell sogar China.
 
Die gigantischen Militärmaschinen der USA und ihrer NATO-Helfer, mit ihren hochelektronischen Massenmord-Maschinen, früher genannt „Soldaten“, haben mit ihren Kriegen gegen Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und viele andere Länder, denen immer gigantische Lügen zugrunde lagen, kein einziges menschliches Problem gelöst. Was sie nur können ist, aus halbwegs lebensfähigen Entwicklungsländern, die ihren nationalen Entwicklungsweg gegangen sind, wie die ehemals nationalrevolutionären Staaten des Nahen Ostens und Afghanistan, völlig zerstörte Regionen zu machen, posthumane Albträume, die keine Lebensräume mehr für die Menschen bieten. Deshalb ist es wichtig, dass das letzte Land aus der Phase der nationalrevolutionären arabischen Entkolonialisierung, die Phase der nationalen weltlichen integrativen Politiker (wie Mohammad Mossadegh, Gamal Abdel Nasser und die große nationale Baath-Partei), Syrien, gegen die Angriffe des Imperialismus und seines Produkts, des religiös-fundamentalistischen Terrorismus, verteidigt wird und Regierung und nationale nicht-terroristische Opposition die Luft und den Spielraum erhalten, den demokratischen nationalen Diskurs zu entwickeln.
 
Diese Wirtschaft ist also 1:1 mit Militarismus, Krieg und Weltzerstörung verbunden. Nur eine ganz andere Wirtschaft, ohne Dominanz des Profitprinzips und ohne Dominanz der gigantischen Spekulationsindustrie, die keine Werte schafft sondern nur in die eigenen Taschen umverteilt, könnte Militarismus allmählich beseitigen, die damit verbunden seelischen Schäden der Menschen allmählich heilen und der Menschheit eine Überlebenschance eröffnen.
 
 
Wie können wir an einem Wirtschaftsmodell arbeiten, in dem sich Krieg und Profit widersprechen?
 
In der Tat, es ist nicht jedes profitorientierte Wirtschaften automatisch mit Krieg verbunden. Zahlreiche zivilisierte Länder sind kapitalistisch und trotzdem friedlich, wie z.B. die skandinavischen Länder lange gezeigt haben.
 
Heute liegen große Hoffnungen auch auf dem chinesischen Modell der Entwicklung von einem armen Land zu einer führenden zivilisierten Industrienation. China ist heute noch voller Widersprüche, meistert aber den Sprung aus dem Mittelalter zu einer führenden innovativen Nation für fast ein Viertel der Menschheit, ohne daran zugrunde zu gehen. Hier wird eine wirklich gemischte Wirtschaft aufgebaut, die dem Profitprinzip öffentliche Grenzen setzt und die kapitalistischen „Märkte“ deutlich reguliert. Damit ist es China bisher gelungen, große, systemische ökonomische Krisen stets zu vermeiden. Im alltäglichen Leben Chinas kann man bereits erkennen, wie die Menschen Bildung und öffentlichen Diskurs nutzen und mit Lernen, Innovation und sogar einer gewissen Gelassenheit verbinden, weil die Stabilisierung der Rahmenbedingungen Eruptionen, Krisen, Turbulenzen und Überkomplexität vermeiden, die die Menschen im Imperialismus ständig unter Schock, Angst und Hass halten – die „Schockstrategie“ (Naomi Klein) ist ja in der Tat ein wesentliches Herrschaftsinstrument des Imperialismus. Die Menschen in China sind heute recht selbstbewusst, diskurs- und lernfreudig, offen und gelassen – eine Voraussetzung auch für Innovativität. In einem Wort, wir müssen heute uns sehr viel mehr mit der künftigen, auf allen Gebieten (technologisch, ökonomisch, ökologisch und sozial) führenden Nation auseinandersetzen. So wie sie lernbegierig uns gegenüber sind, so können wir einiges von einer genaueren, vorurteilsfreieren Untersuchung des chinesischen Weges aus dem Mittelalter in die Neuzeit lernen. Ganz nebenbei gesagt, führt China keinerlei Kriege und bedroht auch kein anderes Land mit Krieg, während die USA vor der Haustür Chinas, im Chinesischen Meer, permanent militärisch demonstriert, provoziert und mit Atomkrieg droht. Kein Wunder, dass China als Partner für Staatsverträge über Entwicklung und Infrastrukturen (gegen Rohstoffe), bei günstigen Staatskrediten ohne politische Bedingungen, bei vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas beliebter ist als die Kombination von amerikanischen Konzernen und ungebetenem amerikanischem Militär. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit ist vielmehr heute in der Tendenz das, was die vom Imperialismus heute beherrschte und blockierte UNO einmal war, ein Hort des klassischen Völkerrechts, der internationalen Kooperation und friedlichen Konfliktbearbeitung unter Menschen – der bescheidene Gegenpol zur NATO-Maschine.
 
Wir sehen hier insgesamt einige notwendige erste Schritte zu friedlicheren nationalen Systemen, die auf menschlicher Verständigungs- und Verhandlungsfähigkeit, auf Kooperation, win-win-Lösungen und gemeinsamer Entwicklung statt Schick-Strategie und „humanitärer“ Kriege beruhen: Der Wohlstand einer Nation muss gerecht und fair verteilt sein. Kein Bonze, Manager, Spekulant, Kapital-Rentier, kann 1000 mal so produktiv sein wie ein arbeitender Mensch. Hier müssten moralische Limits für Boni, Dividenden und andere Drainagen aus dem Produktionskapital festgelegt werden, wie es z.B in Skandinavien gelegentlich diskutiert wird. Man muss nicht so weit gehen wie das sozialistische Kuba, wo der Arzt genauso viel verdient wie der Minister und der Facharbeiter, aber kein Mensch kann auch nur 20 mal so produktiv sein wie ein anderer.
 
Zum anderen muss „die Marktwirtschaft“ (wir wissen ja nicht wirklich, was ein „Markt“ ist oder sein soll) sehr massiv an die gesellschaftlichen und demokratischen politischen Wertesysteme angebunden und entsprechend reguliert werden, damit aus diesem Mechanismus statt eines menschlichen Albtraums ein System entstehen kann, das den Menschen nutzbar gemacht werden kann.
 
Beides klingt ja so selbstverständlich und naheliegend. Trotzdem, in diesem verrottenden Finanzkapitalismus ist selbst das noch Lichtjahre entfernt. Und die Mega-und Giga-Reichen verfügen über so viel Geld, dass sie sich alles und jeden kaufen können. Und so haben sie die Politik, die neoliberalen Blockparteien jeglicher Couleur, ihre Abgeordneten und Politiker in ihrer Hand. Nur das kann erklären, warum sich angesichts des vielfachen Wahnsinns nicht das Geringste in Richtung Verbesserung rührt.
 
Wie leben Sie mit den Widersprüchen zwischen Wirtschaft und Frieden?
 
Ich werde von Zuhörern, Freunden und Bekannten oft gefragt, nach Vorträgen oder Diskussionen im kleineren Kreis, „Wie hältst du das aus, was du da alles recherchiert hast?“ Ich kann oft nur antworten, dass mir das, was wir heute beobachten müssen – Systeme offener Lüge („postfaktische“ Medienlandschaften, die die Menschen mit ihrer Propaganda in jeglichen Krieg treiben können), Kriege und Kriegsdrohungen überall, zerfallende Gesellschaften und Ökonomien, zerstörte Länder und Völker, Flüchtlingsströme, die sich allein überlassen bleiben und mitten in Europa am Rande ihrer Existenz stranden, keinerlei erkennbare Problemlösungen für die elementarsten Menschheitsprobleme, ökologischer Niedergang und Klimakatastrophe, Hass und Gewalt gegen die Schwächsten usw. – ebenso verängstigen wie alle, die noch unabhängig denken und authentisch fühlen können. Natürlich sind wir heute verängstigter als je, irritierter, verunsicherter – denn die Schock-Maschine der herrschenden Einheitsmedien treibt uns täglich in emotionale Turbulenzen hinein, damit wir alle die bereits geplanten Schweinereien mitmachen und dabei noch hurra schreien.
 
Was mir persönlich hilft, ist, dass ich mir als Professor natürlich beruflich den Luxus leisten kann, die Dinge zusammenzutragen, zu analysieren und zu verbreiten. Dafür werde ich zudem noch weltweit zu Vorträgen eingeladen und lerne dadurch viele Länder kennen. Mich tröstet, dass ich überall Menschen treffe, die bereit sind zu grundsätzlichen Änderungen, v.a. aber, dass ich ganze Länder sehe, die es anders machen und mich dabei noch einladen, ihnen meine Sichtweisen zu vermitteln. Allein in den Jahren 2015-2017 habe ich sechs Einladungen nach China zu Vorträgen bekommen. Dort herrscht die Haltung vor: „Sagt uns eure Meinung: Was könnten wir besser machen?“ Aber auch Kollegen in den USA, Frankreich, Ungarn, Polen oder Russland wissen, dass sie den internationalen Austausch brauchen. Das alles tröstet und verhindert, dass wir verzweifeln oder weggucken oder aufhören zu denken und authentisch zu fühlen.
 
Es tröstet aber auch, Freunde und Bekannte vor Ort zu haben, denen man berichten kann, Vorträge zu halten vor normalen Menschen, die keine Wissenschaftler sind. Und aus dem Internet zu lernen, wie viele engagierte Menschen überall auf der Welt Informationen zusammentragen und kommunizieren. Diese zahllosen Netzwerke, die ich mir aufgebaut habe, brauche ich zur täglichen Information, auch wenn ich sie nicht täglich alle lesen kann. Aber ich kann hier noch authentische Informationen bekommen und brauche dann kein Einheits-TV und keine herrschenden Einheits-Zeitungen mehr.    
 
Wie engagieren Sie sich in der Friedensbewegung?
 
Nur zwei kleine Beispiele aus jüngster Zeit: Als wir erfuhren, dass die Rektorin der Hochschule Bremen heimlich einen Vertrag mit der Bundeswehr abgeschlossen hatte, wonach die Bundeswehr Studienplätze für Frauen (!) im Informatikstudiengang kauft, die dann im jetzt angekündigten Cyber-Krieg der Bundeswehr eingesetzt werden, etwas, das der sogenannten Zivilklausel des Bremer Hochschulgesetzes widerspricht, habe ich mit zwei Kollegen und einem pensionierten Pfarrer einen Aufruf zur Weiterentwicklung und Konkretisierung der Bremer Zivilklausel, die ja für alle Bremer Hochschulen gilt, formuliert und verbreitet. Der Aufruf wurde bundesweit bekannt und unterschrieben, führte zu einer Reihe von Veranstaltungen, zu einer parlamentarischen Anfrage der Linken in der Bremer Bürgerschaft und wurde von mehr als 300 Menschen, darunter etwa 80 Professoren (davon etwa 20 aus der Hochschule selbst) unterschrieben. Zweitens halte ich beim Ostermarsch 2017 am Ostersamstag die Rede auf der Kundgebung auf dem Bremer Marktplatz.
 
 
Wie wichtig sind kritische Stimmen in der deutschen Hochschullandschaft?
 
Die Wissenschaft ist vielfach privilegiert in dieser Gesellschaft, schon allein dadurch, dass sie grundgesetzlich abgesichert ist. Und ein deutscher Hochschullehrer hat noch einmal besondere Privilegien. Diese werden in meinem Fach, der Volkswirtschaftslehre, in der Regel dazu genutzt, den Menschen die neoliberalen Austeritäts- und Umverteilungsprogramme aufzuschwätzen als unvermeidlich und alternativlos, und von den normalen Menschen den Verzicht zu verlangen, den diese Professoren bei ihrem Gehalt und ihren Nebenverdiensten aus den Unternehmen und Regierungen niemals selbst erbringen würden. Wasser predigen und Wein saufen, das alte Prinzip.
 
Ich habe mir immer geschworen, und habe dabei immer die Unterstützung und Ermutigung meiner Frau bekommen, dass die gesellschaftlich privilegierte und anerkannte Position des Professors dazu genutzt werden muss, auch mal Dinge zu sagen, die sich der normale Arbeitnehmer nicht erlauben kann zu sagen, da er die meiste Zeit seines Lebens eben nicht unter demokratischen sondern in seiner Firma unter autokratischen Bedingungen leben muss.
 
Ich kämpfe daher Zeit meines Lebens beruflich um die kritischen Stimmen in meiner Wissenschaft, und es gibt dabei auch Erfolge. Wir haben heute wieder eine internationale Bewegung kritischer Ökonomiestudenten, die den neoliberalen Einheitsbrei ablehnen und mehr und breitere plurale Ansätze, die es gibt und die neue Erkenntnisse bringen, erfahren wollen. Meine professionellen Netzwerke sind international, und ich habe mich immer in den kritischen internationalen Ökonomenvereinigungen engagiert, zuletzt 2012-2016 als Präsident der „European Association for Evolutionary Political Economy“, der pluralistischen europäischen Vereinigung der kritischen, nicht-orthodoxen Ökonomen.
 
Aber auch international sind wir gegenüber dem neoliberalen „Mainstream“ eine 20%-ige Minderheit, ohne Zugang zu den herrschenden Medien, zu den großen öffentlichen Forschungsgeldern, zu den privaten Forschungsgeldern und natürlich ohne Zugang zu den neoliberalen Regierungen jeglicher Couleur. Allerdings ist es von Land zu Land etwas verschieden: Höhere Anteile kritischer Ökonomen gibt es z.B. in England oder Italien.
 
Aber wir kämpfen weiter, viele junge Studierende kooperieren mit uns, wir haben eine sehr solidarische Kooperation zwischen den verschiedenen Ansätzen ökonomischer Schulen, von marxistischen Politischen Ökonomen über sog. Sozialökonomen, Institutionalisten, evolutionäre Ökonomen, ökologische oder feministische Ökonominnen. Das macht Mut weiterzumachen, hin zu einer friedlicheren, kooperativen und humaneren Welt.
 
Was hat es mit der Spieltheorie auf sich? Wie kann man auf diese Weise politische Gegebenheiten analysieren?
 
Die Spieltheorie ist zunächst mal ein recht abstraktes formales Modellierungs- und Analyse-Instrumentarium, dessen Übertragung auf reale Situationen nur mit aller Vorsicht und Klugheit, einer guten Kenntnis der Methoden und der formalen Ergebnisse, aber auch der realen Situation, um die es geht, vorgenommen werden kann.
 
Ich habe in meinen Schriften eine Reihe von Anwendungen der Spieltheorie vorgenommen, von Untersuchungen dazu, wie Vertrauen und Kooperation entstehen können, darüber, wie informelle Geldüberweisungssysteme wie das uralte (aus dem islamischen Kulturkreis stammende, aber nicht religiös gebundene) Hawala-System völlig informell funktionieren kann, bis hin zu Fragen, wie Interaktionsarenen und neuartige Netzwerke aufzubauen wären, die etwa die vielen Millionen chinesischer Wanderarbeitnehmer in den boomenden Küstenregionen sozial auffangen und integrieren können. Da ich, nach Promotion und Habilitation, selbst erst einmal zehn Jahre lang außerhalb der akademischen Welt in der sogenannten Praxis (der kommunalen und regionalen Wirtschaftsförderung) gearbeitet habe, haben mich auch lokale Unternehmenscluster und Firmen-Netzwerke interessiert, die ganz informell aber sehr effektiv arbeiten können.
 
Last not least gab es vor zwei Jahren einen Medienhype um den damaligen unkonventionellen griechischen Finanzminister Yannis Varoufakis, der ein anerkannter Spieltheoretiker in meinem Fach ist und den ich persönlich seit einigen Jahren von Konferenzen her kannte. Ein bekanntes Wirtschafsjournal kontaktierte mich zuerst, und fragte, welches böse Spiel der böse Herr Varoufakis denn „mit uns“ in den Verhandlungen um die griechische Entschuldung spielen würde. Ich habe eine passende Spielstruktur (eine kollektive Entscheidungsstruktur in Verhandlungen) erläutert und mögliche und wahrscheinliche Ausgänge unter jeweils bestimmten Bedingungen erklärt. Als dann durch Zufall im Gespräch herauskam, dass ich und Herr Varoufakis Kollegen sind, die sich kennen, war die Sensation perfekt. Natürlich hatte ich bereits seinen geliebten Hassmythos zerstört, dass da der Teufel selbst, eben ein typischer „fauler Grieche“, der „uns fleißige Deutsche“ nur ausbeuten will, ein böses Spiel mit uns treibt. Die erste Reaktion des Journalisten war, das Gespräch abzubrechen, da ihm sofort klar wurde, dass ich seine Vorurteile auch weiterhin nicht bedienen würde. Dann besann er sich eines Besseren und kalkulierte, dass das gerade ein besonderer Medienkick werden könnte: Ein deutscher Spieltheoretiker spricht über seinen ihm bekannten Kollegen Varoufakis! Es kam so – und es folgten etwa 12 Radio- und einige Zeitungs-Interviews in etwa zwei Monaten … auch so kann Wissenschaft mal relevant werden …          

 

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