Stefan Rother (Hrsg.): Migration und Demokratie

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Stefan Rother (Hrsg.): Migration und Demokratie. Springer-Verlag(Berlin, Heidelberg, New York, Hongkong, London, Mailand, Paris, Tokio, Wien) 2016. 282 Seiten. ISBN 978-3-658-02588-5. Thema: Migrantinnen und Migranten, die längere Zeit in einem anderen Land leben, wohnen, Schutz finden, arbeiten, lernen, gehören zur Wohnbevölkerung, können aber nicht mitentscheiden, auch nicht, wenn es um ihre Belange geht. Volksherrschaft? Wie kommt es, dass zum Volk, also dem Demos, nur gerechnet wird, wer als Ethnos durchgeht, also einer irgendwie gestalteten Herkunftsgemeinschaft angehört?

Herausgeber, Autor und Autorinnen,

Der Herausgeber Stefan Rother ist einer der Sprecher im Arbeitskreis Migrationspolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik der Universität Freiburg.

Die Beiträge stammen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die an den Universitäten in Hannover, Victoria (Kanada), Luzern, Mannheim, Berlin und Osnabrück lehren und forschen.

Aufbau

Nach der Einführung durch den Herausgeber sind es drei Beiträge, die sich mit demokratietheoretischen Fragen befassen, vier diskutieren Konzeptionen von Staatsbürgerschaft, drei Beiträge konzentrieren sich auf Migranten als transnationale Akteure.

Inhalt

Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz inbegriffen, für die gesamte Wohnbevölkerung gelten, also auch für Personen, die keinen deutschen Pass haben und daher an der Gesetzgebung vermittels Wahlen und Abstimmungen nicht beteiligt sind. Die Staatsgewalt geht vom Volk (Demos) aus, aber nicht alle Menschen, die sich in Deutschland aufhalten, gehören zu diesem Volk? „Völkische Ideologie“ (Oberndörfer)? Ein Defizit an Demokratie?

Das Problem scheint einfach und schnell zu lösen zu sein: Sobald eine Person die deutsche Staatsangehörigkeit erhält, stehen ihr alle Rechte zu. Tatsächlich ist das unter bestimmten Bedingungen möglich, jedes Jahr werden ca. 100.000 Personen in Deutschland eingebürgert, Tendenz allerdings leicht fallend.

Seit langem beantragen sehr viel weniger Ausländerinnen und Ausländer die Einbürgerung, obwohl sie dies erfolgreich tun könnten. Ein Grund ist, dass sie die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftsstaates nicht aufgeben wollen, andererseits Doppelstaatsangehörigkeit von manche Staaten, auch Deutschland, nicht gewünscht war. Inzwischen erwerben die in Deutschland geborenen Kinder, wenn deren Eltern unbefristetes Aufenthaltsrecht haben, regelmäßig die deutsche Staatsangehörigkeit, sollten sich aber bis zum 23.Lebensjahr für eine entscheiden. Diese Optionspflicht ist inzwischen praktisch entfallen. Generell gewinnt der Gedanke, Staatsangehörigkeit könnte verbinden, nicht ausschließen, an Gewicht; Staatsangehörige eines EU-Mitgliedsstaates können ihre „alte“ behalten, wenn sie Deutsche werden.

Es bleibt indes die Tatsache, dass derzeit über 9 Millionen Menschen in Deutschland wohnen, die eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit haben, darunter auch Personen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen und teils als Flüchtlinge anerkannt, teils geduldet sind.

Helge Schwiertz moniert zu recht, dass Flüchtlinge bislang kaum als politische Subjekte wahrgenommen werden. Es passt doch nicht zur Demokratie, dass Asylsuchenden grundlegende Rechte, so die Freizügigkeit, die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Arbeit viel zu lange verwehrt werden. Massenunterkünfte in manchmal feindseligem Umfeld, bürokratische Unfähigkeit in monate-, ja jahrelangen Verfahren und ähnliche Umstände wären Grund genug, sich zu beschweren und zu organisieren; die „migrantischen Kämpfe“ (Schwiertz) sind erforderlich und nehmen zu.

Man kann politisch Verfolgten unterstellen, dass sie in Deutschland nicht nur Schutz und Sicherheit, sondern auch Demokratie suchen. Selbst wenn Immigrantinnen und Immigranten nach Jahren wieder Deutschland verlassen – wäre es nicht die Gelegenheit zum „Demokratie lernen“ gewesen? Wieso wird die Einbürgerung als Ende der Integration, zur „Belohnung“ gewährt, statt dass demokratische Teilhabe von Anfang an Integration fördert?

Zur Diskussion dieser Fragen werden u.a. folgende Expertisen aus dem Ausland beigebracht:

  • Laut Oliver Schmidtke ist der kanadische Multikulturalismus nach 40 Jahren bei der großen Mehrheit der Bevölkerung unbestritten: Gruppenspezifische Belange von Migranten und Minderheiten gehören zum festen Bestandteil und zur innovativen Kraft der kanadischen Demokratie.
  • Schlenker/Blatter verfolgen den Grundgedanken, dass alle Personen, die von bestimmten Entscheidungen betroffen sind, daran teilhaben sollen; dies ist bislang allenfalls von „kosmopolitischen“ Eliten praktiziert worden, könnte aber durch „multiple Mitgliedschaften“ in Mehrebenensystemen, insbesondere aber auch durch Migranten und Doppelstaatler befördert werden.
  • Weltweit einzig dürfte die Regelung in Lettland sein, die L.van Hoof-Maurer vorstellt. Etwa 13 % der Wohnbevölkerung haben alle sozialen und kulturellen Rechte, aber nicht das aktive oder passive Wahlrecht. Sie sind von Gesetzes wegen „Nicht-Bürger“, da sie oder ihre Vorfahren ab 1940 im Zuge der bis 1990 dauernden sowjetischen Okkupation eingewandert sind. Für diese, in aller Regel russischsprachigen Personen gibt es u.a. russischsprachige Schulen. Lettland stellt ihnen Pässe aus, mit denen sie sich wie alle anderen Unionsbürger in der EU bewegen können.
  • Etwa 10% der Einwohnerschaft Chicagos (etwa 270.000 Menschen) kommen aus Mexiko, die meisten von ihnen sind in den fast 300 „Hometown Associations“ untereinander und mit ihrem Herkunftsort verbunden. Das zeigt sich, wie Stefanie Schütze ausführt, dadurch, dass sie in erheblichem Umfang Verwandte in Mexiko finanziell unterstützen, aber auch Infrastrukturprojekte am Heimatort fördern. Das Engagement führt auch dazu, dass sie, die sie oft auch US-Staatsbürger geworden sind, auf politische Entscheidungen in ihrer mexikanischen Heimatstadt offen und spürbar Einfluss nehmen.
  • Rother erforscht die möglichen Wirkungen von Rückkehrern auf die politische Kultur ihres Heimatlands. Rund ein Zehntel der philippinischen Bevölkerung arbeitet temporär oder permanent im Ausland, etwa in Saudi-Arabien oder den Golfstaaten, vielfach als Hausangestellte ohne demokratische Freiheiten. Nach ihrer Rückkehr scheinen sie diese durchaus deutlicher zu vermissen. Da sie sich in Hongkong leichter versammeln und organisieren konnten, legen sie auch nach der Rückkehr mehr Wert darauf.

Diskussion

Was zunächst wie eine Festschrift zu Ehren von Dieter Oberndörfer ankommt (eine 6 Seiten lange Liste von 90 Zeitschriftenbeiträgen beeindruckt allenthalben), entpuppt sich schnell als brisante, kreative, vielgestaltete Analyse mit internationalem Bezug. Es wird eindringlich klar, dass das Versprechen von Demokratie nicht mit ethnischen Sperren auf Nationalstaaten reduziert werden kann.

Es fehlt auch nicht an Vorschlägen für die Praxis. Sicher ist die lettische Variation, das Wahlrecht aus den bürgerlichen Rechten auszuklammern, nicht hilfreich, auf Dauer auch nicht haltbar. Wenig überzeugen können auch Regelungen in südamerikanischen Staaten, etwa Kolumbien, die dafür sorgen, dass im Ausland lebende Bürgerinnen und Bürger am Wahl des Staatsoberhaupts teilhaben können. Wird – etwa in einem eigenen Wahlkreis – ein Mitglied der Diaspora ins Parlament des Herkunftslandes gewählt, ergeben sich erhebliche Probleme der Kommunikation. Das ist eher Symbolpolitik, die vielleicht den Zusammenhalt dient.

Vielversprechend erscheinen da alle Bewegungen, die sich in der Zivilgesellschaft zeigen. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger zusammentun und ihre Interessen organisieren, können sie sicher sehr viel mehr die Entscheidungen einfordern und beeinflussen, die sie betreffen.

Dabei sollte deutlicher betont werden, dass – so wichtig Wahlen und Abstimmungen auch sind, auch für das Selbstbewusstsein der Menschen, – der politische Prozess, der Demokratie trägt, viel komplexer ist. Die Versprechen der Demokratie sind nicht nur im Wahllokal einzulösen. An diesem Punkt sollten weitere Studien ansetzen

Fazit

Der vorliegende Band führt vor Augen, wie Menschen über die Grenzen der Staaten hinweg kommunizieren und migrieren. Wenn die Nationalstaaten einen beträchtlichen Teil der Wohnbevölkerung von der politischen Mitwirkung ausschließt, weil er der Herkunft nach „nicht dazugehört“, verwechseln sie Ethnos mit Demos.

Ob Menschen nun auf Dauer oder zeitweise eingewandert sind, Demokratie sollte immer die Praxis sein, an der sie teilhaben können.

Dieser Band ist ein wichtiger, kräftiger Impuls für den politischen und wissenschaftlichen Diskurs hierzu.


Rezensent
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg