Richard Silverstein: Die Juden müssen die arabische Kultur annehmen und im Nahen Osten ihren Platz finden

Von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. Ein sehr interessantes Interview mit Richard Silverstein über Israel und Palästina. Richard erklärt uns seine Art, Zionist zu sein. Aber er will Israel als einen vollkommen demokratischen Staat sehen und akzeptiert keine Apartheid im Land. Ich frage mich, ob er noch Zionist sein kann oder will… Überzeugen Sie sich selbst.
Richard Silverstein ist ein Analyst von MintPress, der seit 2003 für seinen Blog Tikun Olam schreibt. Er fokussiert im Besonderen auf israelische Politik und US-Außenpolitik. Silverstein arbeitet, um die Exzesses des israelischen, nationalen Sicherheitsstaates aufzuzeigen. Er bringt oft Nachrichten, die vom Gericht gesperrt oder vom Militär zensiert und in Israel nicht veröffentlicht werden. Silversteins Artikel erschienen bereits auf Haaretz, Al Jazeera English, the Forward, Christian Science Monitor, Middle East Eye und Seattle Times. Er spricht fließend Hebräisch und integriert die hebräische Presse in seinen Blog und in seine anderen Veröffentlichungen. Er hat einen BA-Abschluss von der Columbia University, einen BHL-Abschluss vom Jewish Theological Seminary und einen Masterabschluss in vergleichenden Literaturwissenschaften von UCLA. Er belegte zwei Jahre BA- und Masterstudiengänge an der Hebrew University. Er lebt in Seattle. 
 
Milena Rampoldi: Richard, du definierst dich als einen progressiven (kritischen) Zionisten. Kannst du dies unseren LeserInnen näher erklären?
Richard Silverstein: Ich finde, dass ideologische Definitionen sehr oft eine Falle sein können. Während sie die Möglichkeit bieten, die Ansichten zu verstehen, die man vertreten könnte, veranlassen sie oft andere dazu, jemanden auf der Grundlage dieser Definitionen zu beurteilen.
Unabhängig davon spreche ich von mir als von einem „progressiven Zionisten“. Dies ist sehr weit entfernt von dem, was ich einen „klassischen Zionisten“ nenne. Denn der klassische Zionist glaubt, dass das jüdische Recht auf das Land Israel die Rechte aller anderen Bewohner ausschließt. Aber meine Art, den Zionismus zu sehen, gibt den Juden keine Vorrechte. Und mein Zionismus definiert Israel als einen Staat, in dem es keine Bürger erster und zweiter Klasse gibt. Wie für Azmi Bishara muss Israel auch für mich ein Staat für alleseine Bürger sein. Jeder muss dieselben Rechte in jeglichem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereich haben. Obwohl die Religion für viele, wenn auch nicht für alle israelischen Staatsbürger als Definitionsmerkmal gilt, darf sie aber keinem Rechte verschaffen, die sich von den Rechten jeglichen anderen Staatsbürgers unterscheiden. 
 

 Israel sollte eine Nation werden, in der die Staatsbürger primär durch die Nationalität mehr als durch die Religion definiert werden. Das ist der einzige Weg der Identitätsfindung für Israel, der für alle gleich ist, unabhängig von der Religion. 

Im Gegensatz zu vielen sei es im rechten als auch linken Flügel dieser Debatte, definiere ich kein Endergebnis im Namen der Parteien. Ich fordere ein Israel, das sich als vollkommen demokratischer Staat gestaltet. Ich fordere eine Veränderung des Staates von einem autoritären, von der Religion beherrschten, wie er derzeitig ist, in eine Demokratie.
Persönlich glaube ich nicht mehr an die Zweistaatenlösung. Ich finde eher, dass eine Einstaatenlösung gegeben ist, und dies aufgrund der israelischen Unnachgiebigkeit und der fehlenden Kompromissfähigkeit. Aber ich denke nicht, dass es in meinen Verantwortungsbereich fällt, die Ergebnisse für diejenigen zu definieren, die in diesem zukünftigen Staat leben müssen.
 
MR: Welche sind die wichtigsten Zielsetzungen deines Blogs Tikun Olam?
RS: Tikun Olam ist ein Blog, der die Geheimnisse des israelischen Sicherheitsnationalstaates offenlegt. Ich habe die nationale Sicherheit als den einzigen, destruktivsten Aspekt der israelischen Gesellschaft definiert (es gibt natürlich viele andere, destruktive Elemente, die es auch zu berücksichtigen gilt). Deshalb fokussierte ich auf die Offenlegung von Maulkorberlassen und die Zensur, die die Meinungs- und Pressefreiheit einschränkt. Und deshalb zeige ich die Lügen auf, die die Sicherheitskräfte der israelischen Öffentlichkeit anbieten. Die Geheimtuerei ist ein Feind der Freiheit und der Demokratie. Das ist ein Begriff, den die meisten Israelis weitgehend nicht verstehen. Daher verfolgt mein Blog die Zielsetzung, zu versuchen, jenen Wert in Israel zu verbreiten.
 
MR: Was ermöglicht die Aufdeckung des Unterschieds zwischen Narrativ und Realität? Kannst du uns einige nützliche Strategien nennen, um hinter die Kulissen der Propaganda und des „rationalen“ Narratives zu sehen?
RS: Das vorherrschende ideologische Narrativ ist, dass Israel eine liberale Demokratie ist. Das ist ein liberal-zionistisches Narrativ. Aber sei es innerhalb als auch außerhalb Israels weiß man genau, dass man Israel nicht nur als jüdischen Staat vorstellen darf. Die Zionisten wissen genau, dass Israel, ohne eine demokratische Fassade, die wenige Unterstützung, die es noch in der Welt hat, verlieren würde. So bestehen die Zionisten auf die Täuschung, dass Israel eine Demokratie ist. Sie weigern sich, anzuerkennen, dass die Demokratie in Israel ein toter Buchstabe ist. Denn die Demokratie gilt nur für Juden. Und nicht mal die jüdische Opposition hat demokratische Rechte. Es ist einfach wichtig, den liberalen Zionismus als Schande darzustellen. Wenn wir das tun, zwingen wir die Unterstützer Israels dazu, sich dessen bewusst zu werden, dass nur eine radikale Umwälzung der israelischen Gesellschaft die Möglichkeit bieten wird, auf Dauer zu existieren.
 
MR: Welche sind die wichtigsten Elemente der Ideologie der jüdischen Überlegenheit? Wie kann man diese abbauen?
RS: Als Outsider (nicht-Israeli) ist es schwierig in Erfahrung zu bringen, was oder wie man dieses liberale Konstrukt des Zionismus abbauen kann. Die beste Strategie besteht für mich darin, es zu tun, indem ich meinen Blog als Werkzeug nutze, um die Widersprüche im vorherrschenden Nationalnarrativ offenzulegen. Die Tatsache, dass ich das tue und dass ich erfolgreich bin, wird durch die Anzahl von Angriffen und Beleidigungen und durch das dauernde Interesse, das das Hasbara-Ministerium meinem Blog beimisst, bewiesen. Es ist auch bewiesen durch die Feindschaft, mit der die meisten israelischen Medien meine Arbeit bewerten. Dazu möchte ich hinzufügen, dass der israelische Militärzensor meinen Blog herauspickt, um ihn zu bestrafen.
 
MR: Was wünscht du dir für Palästina in der Zukunft?
RS: Auf langfristige Sicht möchte ich das israelische und das palästinensische Volk gemeinsam in Frieden leben sehen, ob nun in einem einheitlichen Staat oder in zwei getrennten Staaten. Ich wünsche mir das Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge nach Israel. Ich möchte auch das Rückkehrrecht der Juden sehen, aber nur für die, die eine imminente körperliche oder offenkundige Gefahr laufen oder Opfer eines bedrohlichen Antisemitismus sind. Ich möchte Jerusalem als Hauptstadt dieser beiden Völker entweder in einem Staat oder in zwei Staaten sehen.  
 
MR: Welche ist deine politische Vision des Friedens im Nahen Osten?
RS: Ich möchte Israel in die Region des Nahen Ostens integriert sehen: Israel muss zu einem Teil des Nahen Ostens werden und nicht ein Fremdkörper bleiben, der nichts mit seinen Nachbarstaaten zu tun hat, die es umgeben.
Ich möchte die israelischen Juden sehen, die die nicht-jüdischen Bürger ehren und respektieren und nicht als Andere ansehen. Ich möchte die israelischen Juden Arabisch sprechen hören wie die Anglophonen in Quebec Französisch sprechen. Ich möchte, dass die israelischen Juden verstehen, dass sie ein Teil des Nahen Ostens sind und nicht getrennt von ihm sind. Und um dies zu tun, müssen die Juden in Israel die vorherrschende arabische Kultur und Gesellschaft annehmen und ihren Platz darin finden.

 

 

http://promosaik.blogspot.com.tr/2016/01/richard-silverstein-die-juden-mussen.html