ProMosaik e.V. im Gespräch mit Prof. Dr. Rolf Verleger

Shalom Herr Verleger,
“ein Versuch einiger Fragen an Sie…”, so begann mein erstes Schreiben an Prof. Dr. Rolf Verleger, Psychologe mit jüdischen Wurzeln an der Universität Lübeck. Wie viele von Ihnen kannte ich ihn schon aus den Medien und aufgrund verschiedener mutiger Aussagen.

Anbei finden Sie das Interview von ProMosaik mit Prof. Verleger, dem wir sehr dankbar für seine Zeit sind. Wir haben ihn über Israelkritik und Antizionismus befragt. Und weil er Psychologe ist, habe ich Prof. Verleger auch gebeten, Amos Oz zu interpretieren.

Das Interview ist gleichzeitig pessimistisch und wegweisend für das jüdische Leben in Deutschland.
Wie der Islam so ist das Judentum eine Religion der Gemeinschaft und eine Religion der ethischen Werte. 

Ich möchte nichts vorwegnehmen und freue mich auf Ihre Kommentare zum Interview.

Dankend

Dr. phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V. 

Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie würden Sie den Leserinnen und Lesern von ProMosaik Ihren Weg zum Antizionismus und zur Israelkritik beschreiben?

 
Prof. Dr. Rolf Verleger: Da würde man jetzt gerne eine Geschichte hören vom glühenden Zionisten, der ein Bekehrungserlebnis hatte. So war es nicht. Sondern ich war noch nie Zionist. Mein Vater stand in der Tradition der osteuropäischen chassidischen Herzensfrömmigkeit und Gesetzestreue, meine Mutter war in der Berliner deutsch-jüdischen Tradition von Toleranz und Menschenrechten aufgewachsen, und die Schnittmenge war Hochhalten der jüdischen Tradition. Als mir einer der wenigen gleichaltrigen Juden, die ich als Jugendlicher kannte, sagte “Früher brauchte man die Treue zum jüdischen Gesetz, um sich als Jude zu definieren; heute haben wir das nicht mehr nötig, wir haben ja Israel”, so fand ich das völlig verkehrt, denn es galt für mich genau umgekehrt: Ich brauchte nicht Israel, um mich als Jude zu definieren. Verstrickt in diese religiöse Weltanschauung hielt ich den vermeintlich bevorstehenden Angriff der arabischen Nachbarn auf Israel 1967 für die Strafe Gottes an Israel wegen seiner fehlenden Gesetzestreue. Dass das alles nicht so ganz stimmte, merkte ich dann doch selbst und verlor den Kinderglauben. Aber dass das Positive an der jüdischen Tradition das Hochhalten von Moral, Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Mildtätigkeit ist, das habe ich in der Kindheit aufgesogen und das ist eine Konstante in meinem Leben geblieben.

Dr. phil. Milena Rampoldi: Als Sie 2006 die militärische Intervention Israels gegen den Libanon kritisierten bezeichnete Herr Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland ihre Ansicht als „Einzelmeinung“. Meine Meinung hierzu ist hingegen, dass die antizionistischen Stimmen in Deutschland zum Schweigen gebracht werden. Wie sehen Sie das?
Prof. Dr. Rolf Verleger: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist ausgerottet und vertrieben. Ich zum Beispiel habe keine Verwandten mehr in Deutschland außer meiner Mutter, meiner Frau und meinen Kindern: Meine Geschwister und Cousins sind alle ausgewandert, weil das jüdische Leben hier erloschen war. Insofern sind nicht nur die antizionistischen, sondern alle jüdischen Stimmen in Deutschland zum Schweigen gebracht. Nun wächst etwas Neues heran, wesentlich getragen durch Einwanderer aus der Ex-Sowjetunion. Die sind sehr mit ihrer Identitätsfindung beschäftigt, im Dreieck von alter Heimat Sowjetunion, neuer Heimat Deutschland und dem Einwanderungsgrund Judentum. Kritik an Israel steht da nicht an erster Stelle. Daher: Die vom Zentralrat stets geäußerte Solidarität mit Israels Politik ist meiner Meinung nach repräsentativ für das, was die große Mehrheit der Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland denkt. Das ist sehr bedauerlich, aber so ist es. Das ist ein großer Unterschied zu gewachsenen jüdischen Gemeinschaften wie in Frankreich, Großbritannien und vor allem den USA, wo sich etwa ein Drittel der jüdischen Gemeinschaft klar gegen Israels Politik positioniert und ein weiteres Drittel skeptisch-neutral und unschlüssig ist.

 Dr. phil. Milena Rampoldi: Was haben Sie mit der Berliner Erklärung bereits erreicht und wie weit ist noch der Weg, damit sich Deutschland im Namen der Gerechtigkeit von der aktuellen israelischen Politik trennt?
Prof. Dr. Rolf Verleger: Ob ich persönlich irgendetwas erreicht habe außer der Ehre, von Ihnen interviewt zu werden, ist die Frage. Aber wir sind ja Teil eines historischen Meinungsumschwungs: Längst ist die Mehrheit der deutschen Bevölkerung auf Seiten Palästinas, völlig anders als noch vor wenigen Jahrzehnten. Für die deutsche Politik seit Adenauer war Solidarität mit Israel sehr praktisch, weil man sich dadurch glaubwürdig von der Last der Nazi-Vergangenheit absetzen konnte, sich auf Seiten von Demokratie und Menschenrechten stellen konnte und so neues Ansehen in der Welt gewinnen konnte. Diese Position wird immer brüchiger, durch den Meinungsumschwung in den Ländern Europas und in Deutschland, verursacht durch Israels menschenrechtswidriges Verhalten und durch den Ansehensverlust der mit Deutschland und Israel verbündeten USA. Wir sollten weiter darauf hinwirken, dass dieser Meinungsumschwung in Politik und Medien seinen fairen und adäquaten Ausdruck erhält.

 Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie können wir den Deutschen heute den „Export“ des Judenproblems nach Palästina erklären?
Prof. Dr. Rolf Verleger: Bis 1917 terrorisierte das Zarenreich seine jüdische Bevölkerung und zwang sie so zur Auswanderung, in den folgenden Bürgerkriegsjahren gab es immer noch Pogrome. 1917 benutzte Großbritannien dieses Problem, um aus dem Osmanischen Reich eine “Heimstätte” für Juden herauszubrechen, 1925 machten die USA ihre Grenzen für Einwanderung dicht, ab 1933 terrorisierte Deutschland die Juden zuerst in Deutschland, dann in fast ganz Europa. Wer nicht umgebracht wurde, floh – egal wohin, und wenn es denn möglich war, auch nach Britisch Palästina. Die ersten jüdischen Einwanderer in Palästina wollten einen neuen Menschen schaffen, frei vom Staub der Diaspora, erdverbunden und in freier Assoziation der Werktätigen, später kamen dann Menschen, die nur ihr Leben retten wollten, seit 1967 vermehren sich nationalreligiöse Spinner. Viele Deutsche haben diesen Facettenreichtum der israelischen Geschichte und Kultur bewundert, aber: All das spielte sich in einem Land ab, das schon besiedelt war; deswegen ist die jüdische Besiedlung verbunden mit Enteignung, Vertreibung, Zerstörung, Deportation, Diskriminierung der arabischen Bevölkerung: Es ist das Spiegelbild der von den europäischen Juden erlebten Behandlung durch die europäischen Nationalisten vom Atlantik bis zum Ural.

 Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie können wir den Bürgern erklären, dass Israel nicht die Juden repräsentiert?
Prof. Dr. Rolf Verleger: Indem wir Juden uns von Israels Politik distanzieren. Ich kenne Dutzende in Deutschland lebende Juden (Deutsche und Israelis), die so denken. Leider ist das, wie gesagt, nicht repräsentativ für das zerstörte und im Umbruch befindliche deutsche Judentum. Aber schauen Sie mal in die größte jüdische Gemeinschaft, die USA, nach Organisationen wie Jewish Voice for Peace, J-Street, US Campaign to End the Israeli Occupation, nach den zahlreichen Beschlüssen von Studierendenvertretungen zum Abzug von Universitätsvermögen aus Firmen, die an Israels Okkupation mitverdienen – oft unter Mithilfe jüdischer Aktivisten. Das sind Vorbilder für uns Juden in Deutschland.
 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Können Sie diese Passage aus dem Werk von Amos Oz kommentieren?
 
Im Leben des Einzelnen wie im Leben ganzer Völker brechen die schlimmsten Konflikte oft zwischen zwei Verfolgten auf. Es ist ein sentimentales Wunschdenken, dass sich die Verfolgten und Unterdrückten solidarisieren, um gemeinsam gegen ihren grausamen Unterdrücker zu kämpfen.[…] Nicht selten sieht der eine in dem anderen nicht einen Schicksalsgenossen, sondern die grauenerregende Fratze ihres gemeinsamen Verfolgers.
Vielleicht ist dies auch der Fall bei dem rund hundertjährigen Konflikt zwischen Arabern und Juden: Europa, das die Araber durch Imperialismus, Kolonialismus, Ausbeutung und Unterdrückung erniedrigte, ist dasselbe Europa, das auch die Juden verfolgte und unterdrückte und schließlich die Deutschen gewähren ließ oder sogar unterstützte, als sie darangingen, die Juden aus allen Teilen des Kontinents zu verschleppen und fast vollständig zu ermorden. Doch die Araber sehen in uns nicht das halb hysterische Häuflein Überlebender, sondern einen neuen überheblichen Ableger des technologisch überlegenen, ausbeuterischen kolonialistischen Europa, das listigerweise – diesmal im zionistischen Gewand – in den Orient zurückgekehrt ist, um erneut auszubeuten, zu enteignen und zu unterdrücken. Und wir wiederum sehen in ihnen nicht die Opfer gleich uns, nicht Brüder in der Not, sondern pogromlüsterne Kosaken, blutdürstige Antisemiten, maskierte Nazis, als wären unsere europäischen Verfolger hier im Land Israel erneut aufgetaucht, hätten sich Kefijes um den Kopf geschlungen und Schnurrbärte wachsen lassen, wären aber immer noch jene, die seit eh und je nach jüdischem Blut dürsten und uns aus purem Vergnügen die Kehle durchschneiden.

 Prof. Dr. Rolf Verleger: Ja, zum Verständnis der subjektiven Befindlichkeiten beider Seiten ist das hilfreich.
Dieses Verständnis enthebt aber uns – sowohl die unmittelbar Betroffenen wie auch die Außenstehenden – nicht der Notwendigkeit eines eigenen moralischen Maßstabs für die Entscheidung darüber, was richtig und falsch ist. Meine Meinung dazu ist: Die von Oz dargestellte arabische Sichtweise entspricht im Wesentlichen der Realität; in der Tat werden die Palästinenser enteignet und unterdrückt, das ist nicht ihre Einbildung. Dagegen entspricht die von ihm dargestellte jüdisch-israelische Sichtweise nicht der Realität: Es ist eine Einbildung, dass die Araber die neuen Nazis seien; vielmehr wehren sich die Palästinenser verständlicherweise und berechtigterweise gegen Enteignung und Unterdrückung. Es herrscht objektiv keine Symmetrie, sondern es besteht ein Macht- und Unrechtsverhältnis, wie zwischen amerikanischen Siedlern und Indianern.
 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie sehen Sie die Möglichkeiten eines Zusammenlebens zwischen Palästinensern und Juden hin zur Versöhnung nach so viel Leid und Gewalt von einer psychologischen Sichtweise aus?
Prof. Dr. Rolf Verleger: Der Schlüssel für die Möglichkeit eines Zusammenlebens von jüdischen Israelis und Palästinensern ist, dass die Regierung Israels die Palästinenser für das ihnen angetane Unrecht um Verzeihung bittet. Dann gäbe es eine Chance für die Zukunft.

Rolf Verleger (Prof. Dr.), geb. 1951, ist Psychologe an der Universität Lübeck. Während seiner Mitgliedschaft im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland 2005-2009, als Delegierter Schleswig-Holsteins, setzte er sich von der unkritischen Unterstützung Israels durch die deutsche jüdische Gemeinschaft ab. Er schrieb unter anderem das Buch “Israels Irrweg. Eine Jüdische Sicht”.

 

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