Papa Oumar Ndiaye: Es kann keine externe Lösung des Problems der Bettelei der TALIBE-Kinder im Senegal geben

von Milena Rampoldi, ProMosaik. – Anbei mein Interview mit Papa Oumar Ndiaye, Doktorand im Fach Soziologie an der Universität Poitiers über das Thema der Talibé im Senegal (vgl. hier seinen  Artikel in französischer Sprache über die Institution der Daara und die Bettelei der Talibé). Ich möchte mich herzlichst bei Papa Oumar Ndiaye für seine Unterstützung und seine Erörterungen zu einem so komplexen Thema bedanken. Um das Problem dieser Kinder zu lösen, muss man eine interne Lösung anstreben, indem man die örtlichen Akteure zu Wort kommen lässt und die soziale, wirtschaftliche und religiöse Situation im Senegal berücksichtigt.
Milena Rampoldi: Das Problem der Bettelei der TALIBE im Senegal lässt sich nicht von Außen lösen: warum?
Papa Oumar Ndiaye: Es ist sehr schwierig, dieses Problem von Außen durch ausländische Akteure zu lösen. Externe Akteure (NRO, UNICEF…) streben größtenteils wirtschaftliche Lösungen an. Wenn wir aber alle im vorherigen Jahrhundert vorgeschlagenen Lösungen dieser Akteure analysieren, stellen wir schließlich fest, dass diese eine Subventionierung der Daara-Institution im weitesten Sinne (Lieferungen, Lebensmittelversorgung, Medrese…) beinhalten. Aber jenseits der wirtschaftlichen Aspekte handelt es sich wohl eher um ein soziologisches Problem. Und wenn man das Ganze im Detail analysiert, kommt die Frage nach der Grundlage aller Projekte dieser Akteure auf (am Ende des 19. Jahrhunderts, 1945, 1970, von 1992-1996 und von 1997 bis 2000…). All diese Projekte haben keine endgültigen Ergebnisse erzielt, weil es am inneren Willen (des Staates und auch der Bevölkerung) fehlte, das Ganze endgültig zu lösen. Beispielsweise erneuerte UNICEF im Jahre 1997 das eigene Projekt nicht mehr (vgl. Artikel). Dies erfolgte aus strategischen Gründen, da UNICEF die Zurückhaltung der Regierung verstanden hatte, sich den einflussreichen Marabutten zu widersetzen.
MR: Welche sind Ihrer Meinung nach die Lösungen, um die Lebensqualität der TALIBE im Senegal zu verbessern?
PON: Meiner Ansicht nach gibt es zwei Lösungen: eine soziologische und eine wirtschaftliche. Man muss die Falle vermeiden, nach der die Angelegenheit rein gesetzlich und politisch angegangen werden muss, indem man das Phänomen systematisch beurteilt und verurteilt. In Dakar sieht es so aus, als würden alle (zumindest in der Öffentlichkeit) nichts anderes tun als die Bedingungen der Talibé zu verurteilen. Aber wir sind alle verantwortlich für die Verewigung dieses Phänomens. Die Politiker sehen tatenlos zu und erfüllen nicht ihre Pflichten, weil sie während der Wahlen nicht als „Feinde“ der Religion und des Volkes angesehen werden wollen, die in der Tat die „Abonnenten“ dieses Dienstes sind (vgl. Artikel). Man muss sich auf jeden Fall dessen bewusst sein, dass man ein Fundament der senegalesischen Gesellschaft berührt, wenn man sich mit diesem Problem auseinandersetzt. Man darf nichts aufdrängen, man muss zuhören und darüber sprechen, ohne dass mein guter Wille etwas ändern kann, aber vor allem ohne Kompromisse mit den Geistlichen einzugehen. Man muss sich auf jeden Fall sehr darum bemühen, dass dieser Kampf gegen die Bettelei der Talibé nicht mit einem Kampf gegen die Religion verwechselt wird. Bevor man ein Projekt angeht, muss man immer diese einführende Kommunikationsarbeit leisten. Denn es handelt sich um ein sehr heikles Thema. Für viele Senegalesen weisen diese Talibé-Kinder die besondere Eigenschaft auf, dass sie den Koran lernen. Man muss auch so weit wie möglich vermeiden, dass sich das Wort Talibé auf ein politisiertes Kind bezieht und somit zum Gegenstand eines Kampfes wird (der dann symbolisch einen Kampf gegen die Religion bedeuten könnte). Man sollte sich hingegen für den Begriff Nongo Daara entscheiden, was so viel wie sozialisiertes Kind oder Schüler bedeutet. „Diese kleinen Details“ sind wesentlich. Denn die Senegalesen nehmen die Religion im Allgemeinen sehr ernst.
MR: Welche Bedeutung hat die Bettelei in der islamischen Kultur und Gesellschaft?  
PON: Der Islam empfiehlt im Allgemeinen (im Senegal praktiziert man vor allem den Sufismus), den Bedürftigen Almosen zu geben. Es handelt sich somit um eine Form der verpflichtenden Wiederverteilung der Erträge. Das System basiert auf der Dimension des Heiligen und verfolgt das Ziel, die Solidarität unter den Individuen zu fördern, um sich der ungerechten Verteilung des Reichtums zu widersetzen und auf lange Sicht die Bettelei an sich abzuschaffen. In der islamischen Weltanschauung geht man davon aus, dass es in Zukunft weniger Arme geben wird, wenn sich die Wohlhabenden an diese Pflicht der Verteilung und Weiterverteilung des Reichtums halten. Die Zielsetzung besteht in der Förderung eines harmonischen Gesellschaftslebens. Heute erkennt man an, dass die gesellschaftlichen Spannungen in den meisten Fällen auf unverschleierte, gesellschaftliche Ungleichheit  zurückzuführen sind.   
Im Besonderen im Sufismus gibt es auch eine Tradition der Bettelei. Durch die Bettelei erlernen die Gläubigen wichtige ethische Werte wie Bescheidenheit, Anstand und Demut … Im Senegal betteln aber nicht nur die Talibé-Kinder. Auch die Jugendlichen Talibé betteln nach denselben Grundsätzen, indem sie dem Beispiel von Baye-Fall folgen (auf ihn ist die Bedeutung der Verwendung des Begriffes Nongo Daara zurückzuführen, wenn man von den Talibé spricht).  
MR: Wie kann man eine interne Lösung des Problems finden?
PON: Eine interne Lösung findet sich nur durch einen ehrlichen Dialog zwischen der Regierung, den Daara und den einflussreichen religiösen Führern im Senegal. Denn die Daara weisen seit ihrer Gründung eine besondere Eigenschaft auf: sie befinden sich zwar im Einzugsgebiet des senegalesischen Staates, aber im Namen des Laizismus bietet ihnen der Staat keinerlei finanzielle Unterstützung. Er entscheidet auch nicht über den Inhalte der Programme, die hier unterrichtet werden und bestimmt auch nicht die Auswahl der Lehrer, die hier unterrichten. Der Staat muss seine Verantwortung übernehmen und anfangen, wahre Beziehungen zu den Daara aufzubauen. Die Lösung besteht nicht darin, wie immer in der Vergangenheit zu versuchen (vgl. Artikel), sie zu ignorieren oder aus der Welt zu schaffen, sondern sie zu begleiten und in das Erziehungssystem zu integrieren. Wenn die Daara heute immer noch bestehen, so hat dies damit zu tun, dass mehr 90% der Senegalesen Muslime sind. Die Daara sind für viele (vgl. Artikel) das einzige Mittel, um ihren Kindern eine religiöse Erziehung anzubieten. Es geht nicht darum, Gott in die Schulen zu bringen (denn das würde dem Laizismus widersprechen), sondern darum, die derzeitig passendste Lösung herbeizuführen, um die Interessen der Kinder zu vertreten.          
MR: Wie können sich Alternativen finden, um die Bettelei der Kinder zu vermeiden?
PON: Die einzige Alternative, die ich sehe, besteht im ehrlichen Dialog mit den wichtigsten involvierten Akteuren. Ich spreche nicht von einem Dialog, der einer Beratung, einer Aufforderung oder einer Informationsübermittlung ähnelt… ich spreche hingegen von einer Situation der gemeinsamen Produktion, Entscheidung und Bewertung durch alle Teilnehmer. In diesem Rahmen können die NRO, mit großer Demut und tiefem Respekt gegenüber den Menschen, darum gebeten werden, ihre Vorschläge denen zu unterbreiten, die die verschiedenen Formen der Kapitalbeschaffung unterstützen und diese verschiedenen Formen des Wissens verstärken. Sonst wird es wieder geschehen, dass wir „Kindheitsexperten“ bestellen, die uns Lösungen erarbeiten, die nur für sie gut sind und die diese dann in einer Bevölkerung anwenden möchten, die sich nicht damit identifiziert. Die Konsequenz wird dieselbe sein: nach 10, 20, 30 Jahren wird man wieder vor einem Misserfolg stehen. Die Hauptakteure dürfen nicht als „kulturelle Idioten“ angesehen werden. Denn sie verstehen die Herausforderungen und handhaben die einzelnen Situationen je nach ihrem politischen und religiösen Interesse.
MR: Welche sind die wichtigsten Zielsetzungen der Koranschulen im Senegal?
PON: Die Zielsetzungen der senegalesischen Koranschulen gestalten sich mehrfach. Es sei darauf hingewiesen, dass es im Senegal verschiedene Koranschulen gibt (vgl. Artikel). Wie alle Schulen verfolgen diese Koranschulen das Ziel, den Kindern das Schreiben und das Lesen, die Memorierung des Korans und die Pflege des Körpers und der Seele beizubringen.

 

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