Migrationsland Schweiz. 15 Vorschläge für die Zukunft (verschiedene Autoren)
Von Christian Müller, Infosperber, 15. Okt 2016 – Ein neues Buch zu einem brandaktuellen Thema – und doch ganz ohne Angst-Bewirtschaftung nach Art gewisser Zeitungen. Der Titel trügt. Migrationsland Schweiz. 15 Vorschläge für die Zukunft. Er weckt Erwartungen, die nicht erfüllt werden. Denn: Wenn ich das Wort Migrationsland lese, denke ich, zumindest heute, vor allem an die Flüchtlinge. Und wenn ich das WortVorschlag sehe, erwarte ich eine Erklärung, wie das aktuelle Problem gelöst werden kann oder könnte – das Flüchtlingsproblem nämlich. Was sollen wir mit ihnen, den Tausenden, anfangen? Wie sie beschäftigen? Wie sie integrieren? Das ist aber nicht das Thema des Buches.
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Was Schweizer kaum mehr machen wollen: ein zum Spengler ausgebildeter Zuwanderer bei der Arbeit
Damit ist aber auch bereits alles gesagt, was an dem Buch kritisiert werden kann – wenn man einmal von dem zu schmalen weissen Rand auf den kleinen Seiten absieht, der es dem interessierten Leser verbietet, seine Randnotizen hinzusetzen. Aber wer macht denn das noch, im Zeitalter des blossen Überfliegens?
Zahlen, Analysen, Denkanstösse
Das Thema des Buches ist die Schweiz, die Schweiz als Land, das Menschen aus anderen Ländern anzieht – weil diese Menschen aus anderen Ländern, im schlechtesten Fall, ums nackte Überleben kämpfen, oder, im häufigeren Fall, hoffen, im Paradies «Switzerland» sich eine Zukunft – eine menschenwürdigere Zukunft – erarbeiten zu können. Oder aber auch ganz einfach, weil hierzulande am Ende des Monats mehr rausschaut als zum Beispiel im «grossen Kanton» nördlich des Rheins.
15 Texte zum Thema Zuwanderung. 15 Texte, die zum Thema etwas beleuchten, erklären, dazu Zahlen liefern, Hochrechnungen für die Zukunft aufzeigen. 15 Texte ohne jeden emotionalen Aufschrei. Nüchterne, aber vielsagende Zahlen. Juristische Erläuterungen und Auseinanderlegungen. Empirische Forschungsresultate. Analysen von Ursachen und Wirkungen. Und, das vor allem, viele wertvolle Denkanstösse. Dabei geht es immer um die Migration als zeitloses Phänomen, nicht um die gegenwärtige sogenannte «Flüchtlingskrise».
Ein Buch, das man lesen muss
Und das sind in etwa die Themen – stark verkürzt und simplifiziert:
– Walter Leimgruber, Professor für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel, macht darauf aufmerksam, dass die Beschränkung des Rechts der politischen Partizipation auf die Staatsbürger nicht der ursprünglichen Idee der Demokratie entspricht und dass die Demokratie auch nicht an den Staatsgrenzen beendet sein sollte. Einer der lesenswertesten Artikel des Buches!
– Joachim Blatter, Clemens Hauser und Sonja Wyrsch plädieren ebenfalls für eine schnellere Beteiligung der Zuwanderer an den demokratischen Entscheidungsprozessen und weisen darauf hin, wie in diesem Punkt die Schweiz anderen Staaten hinterherhinkt. (Zur Erinnerung: Auch die Zulassung der «staatseigenen» Frauen zu den demokratischen Entscheidungsprozessen erfolgte bekanntlich erst auf Druck von aussen.)
– Andrea Schlenker (wie Blatter von der Universität Luzern) nimmt die Frage der Doppelbürgerschaft unter die Lupe und verweist auf Studien, die zeigen, dass das politische Mitgestaltungsinteresse von Zuwanderern durch die Möglichkeit der Doppelbürgerschaft nicht etwa halbiert wird, sondern sogar grösser ist, und dass die Doppelbürger oft auch eine etwas offenere, kosmopolitischere Sichtweise einzubringen vermögen.
– Michael Ambühl, ehemaliger Staatssekretär im Aussendepartement, und Sibylle Zürcher bekräftigen die Vorteile ihrer schon bekannten strategischen Vorschläge zu den Verhandlungen mit der EU in Sachen Personenfreizügigkeit.
– Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europarecht an der Universität Freiburg, analysiert den Schengen-Vertrag sowie das Dublin-Abkommen und zeigt deren Schwächen auf. Sie zeigt auch, wie neue, zusätzliche Bestimmungen automatisch übernomen werden müssen. Ausserdem macht sie darauf aufmerksam, welch grosse Auswirkungen die nationalstaatlich regulierten Formen des Asylrechts auf die Attraktivität der Länder für potenzielle Zuwanderer haben. Sehr informativ!
– Martina Caroni, auch sie von der Universität Luzern, beleuchtet das Problem der sogenannten Sans-Papiers, das allein schon mit ein klein wenig mehr Ermessensspielraum der kantonalen Behörden dramatisch reduziert werden könnte und in jedem Sinne, politisch, wirtschaftlich und menschlich, die Situation so verbessert würde. Pflichtlektüre für jeden Exekutiv-Politiker!
– Constantin Hruschka, Jurist und für die Schweizer Flüchtlingshilfe im Einsatz, kritisiert die vielen paragrafenbasierten Schreibtischentscheidungen und fordert mehr direkten Kontakt zu den Zuwanderungswilligen. Seine Erfahrung besagt, dass damit nicht nur viele Problemfälle vermieden werden könnten, auch die Motivation der Zuwandernden zur persönlichen Integration wachse mit dem persönlichen Kontakt, nicht beim sinnlosen und oft langen Warten auf den nächsten Entscheid. Beherzigenswert!
– Margit Osterloh und Bruno S. Frey, emeritierte Ökonomie-Professoren der Universität Zürich, schlagen vor, die Zuwanderer legal anreisen zu lassen, von ihnen aber eine Eintrittszahlung zu verlangen – Geld, das sonst an die Schlepper bezahlt werde. Sie behandeln das Thema Zuwanderung aus ökonomischer Sicht.
– Stefan Schlegel, Philipp Lutz und David Kaufmann, alle drei vom Forum Aussenpolitikforaus, gehen das Thema Zuwanderung ebenfalls aus ökonomischer Sicht an. Sie beurteilen die Migration grundsätzlich als sehr positiv und plädieren ebenfalls für eine Einwanderungsgebühr.
– Reto Föllmi, Professor für Internationale Ökonomie an der Universität St. Gallen, und sein Forschungsassistent Timo B. Dähler plädieren intensiv für die Förderung der Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte und erklären die daraus resultierenden Vorteile für die Schweizer Wirtschaft. Auf den dadurch entstehenden Brain-Drain in den Herkunftsländern der Zugewanderten gehen sie nicht ein. Im Rahmen traditioneller schweizerischer Rosinen-Picker-Politik eine wenig überraschende Sichtweise.
– Philippe Wanner, Professor für Demografie an der Universität Genf, sieht es ebenfalls rein wirtschaftlich. Er liefert zahlreiche Berechnungen des Babyboom-bedingten Rückgangs der einheimischen Erwerbstätigen in den kommenden Jahrzehnten und sieht in der Zuwanderung die ideale Kompensation dieser wirtschaftlich negativen Entwicklung. Ein «Glücksfall!» Den FDP-Politikern ans Herz gelegt!
– Margarite Helena Zoeteweij, Professorin an der Universität Freiburg, beleuchtet das kaum diskutierte Problem der Nicht-Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen, wodurch wertvolle Leistung einfach verloren geht. Warum soll ein Ingenieur bei uns nur Taxifahrer sein dürfen, nur weil es zwischen der Schweiz und seinem Herkunftsland keinen Vertrag die Anerkennung von Diplomen betreffend gibt? Interessant!
– Anna Goppel, Assistenzprofessorin für Praktische Philosophie an der Universität Bern bringt (endlich) auch den philosophischen Aspekt in die Denkanstösse. Warum hat der Mensch eigentlich nur das Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsortes innerhalb «seines» Staates? Mit Wissen, dass der Nationalstaat eine noch keine dreihundert Jahre alte Erfindung ist, darf diese Frage sehr wohl gestellt werden. Sehr interessant für Leute, die bereit sind, auch sogenannte Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen!
– Katja Gentinetta, bekannte Polit- und Wirtschaftsberaterin und professionelle Veranstaltungsreferentin, beschreibt die Errungenschaften der offenen Gesellschaft, vor allem das System «Freiheit und Sicherheit». Zur Sicherung dieser Errungenschaft habe auch die Toleranz eine Limite. Gentinetta plädiert – mediengewandt – für eine Begrenzung der Einwanderung aus nicht-europäischen Kulturen, ohne dies so zu sagen.
– Amina Abdulkadir, «Autorin und Bühnenkünstlerin», schliesst die Reihe der Beiträge mit einem Essay ab. Zitat: «Der Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Schweiz liegt in der Entwicklung vom ängstlichen Unkraut zur wandelbaren Mimose.»
Die Herausgeber des im Badener Verlag «Hier und Jetzt» erschienenen Buches, Christine Abbt und Johan Rochel, haben echt gute Denkanstösse zusammengetragen. Man muss das Buch nicht zwingend von vorne bis hinten durchlesen, um an viele nützliche Informationen und sinnvolle Anregungen zu kommen.
Leider fehlt ein naheliegender «Vorschlag»: dass nämlich die Wirtschaft, die am meisten von der Zuwanderung profitiert, deshalb auch deutlich stärker zur Kasse gebeten werden sollte. Zum Beispiel mit 5 Lohnprozenten bei den beschäftigten Hochqualifizierten zur Finanzierung der Integration und der Weiterbildung der weniger qualifizierten Zuwanderer, zum Beispiel der Kriegs- und Armutsflüchtlinge.
Aber vielleicht provoziert das Buch ja weitere nützliche Ideen. In einem – sogenannt «weltoffenen» – Land mit 50 Prozent Zuwanderungsgegnern und –skeptikern wird diese Diskussion eh nicht so schnell verstummen.