Jürgmeier: In der Schule sind sie alle Fremde oder Wer integriert eigentlich wen?

von Jürgmeier, Hallo – willkommen – Jugendliche mit Migrationshintergrund, 8. Brückentag PH Bern, Institut für Weiterbildung // 28. November 2015. Aktuell wie noch nie dieses Essai des Schweizer Autors Jürgmeier, den wir vor kurzem interviewt haben.
 

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Der Mann hatte seit seiner Kindheit eine jener Kugeln besessen, wie sie die Wahrsa­gerinnen und Wahrsager zwischen sich und den Schicksalsgläubigen drehen lassen. Nur etwas unterschied die Kugel des Mannes von jenen magischen Kristallkugeln – es war eine kleine Weltkugel, die er als Bueb mit grossen Augen immer wieder um die eigene Achse hatte kreisen lassen, so dass Feuerland, Spitzbergen, Wladi­wostock, Kairo an ihm vorbeizogen, während schon Paris, London, Zürich am Hori­zont auftauchten. Er war stolz darauf gewesen, dass er die ganze Welt zwischen sei­nen kleinen Fingern hatte drehen lassen können.
 
 
Der Mann, dem die Welt zu gross wurde
Aber seit er zu erfahren begonnen hatte, was zwischen Moskau und Washington, Peking und Sarajewo geschah, schien die kleine Weltkugel in seiner Vorstellung zu wachsen, wurde grösser und grösser, und wenn er sie jetzt zwischen seinen Händen drehte, schien es ihm, als würde sie ihn zu erdrücken beginnen. Die Welt war ihm zu gross geworden.
 
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So beschloss er eines Tages, die Welt kleiner zu machen, und schlug mit einem Hammer auf die Kugel ein. Der Mann schien nicht um die versteckten Eigenschaften seiner magischen Kugel gewusst, und als diese sich, in tausend Stücke zerschlagen, in Sekundenschnelle in tausend neue Weltkugeln verwandelte, da sah er mit ent­setzten Augen tausendmal Sarajewo, tausendmal Wladiwostock, Feuerland, Spitz­bergen. Und statt einer kleineren sah er sich tausendfach derselben grossen Welt gegenüber, tausendfach zogen Bombay, Swaziland, Chicago, Ankara, Bern an ihm vorbei. Vorwurfsvoll, wie er in seinem Wahn glaubte.
Da packte ihn eine unbändige Wut. Er stand auf. Stapfte aus dem Zimmer. Schlug die Türe mit lautem Knall hinter sich zu. Und liess tausend Welten im Stich.
Fragen Sie mich nicht, was er ausserhalb des Zimmers antraf. Ich will Sie nicht lang­weilen.
 
[Aus: Jürgmeier – Der Mann, dem die Welt zu gross wurde, Nürnberg: Lectura-Verlag, 2001]

Wir helfen allen, die es nötig haben oder
Wir lassen Menschen auch verhungern.
In diesen Tagen scheint es wieder einmal, als hätte auch unsere vermeintlich selbstverständli­che Gemütlichkeit ein Ende. Als müsste das beschauliche Leben, das gerne mal als langweilig apostrophiert wird, anderen Zeiten Platz machen – spannenderen, bedrohlicheren. Aber ver­mutlich beruhigen wir uns spätestens an Silvester, mit der Tischbombe in der Hand, damit, dass die statistische Wahrscheinlichkeit, einer terroristischen Attacke zum Opfer zu fallen, auch 2016 deutlich kleiner sein wird als dass ein Fehltritt in den Bergen unserem eigenen oder dem Leben unserer Liebsten ein Ende setzt.
 
Den Text über den Mann, dem die Welt zu gross wurde, habe ich vor zwanzig Jahren ge­schrieben. Als, u.a., im ehemaligen Jugoslawien Menschen von Nachbarn aus ihren Wohnun­gen gerissen, verschleppt und getötet wurden. Weil sie plötzlich als Feinde galten. Tausende, Zehntausende sind damals Richtung Westeuropa geflohen. Auch zu uns. Die Welt ist seither nicht kleiner geworden. Im Gegenteil. Die globalen Aktualitäten dröhnen durch unsere guten Stuben, verstopfen unsere Hirne und verhärten unser Herz. Menschen aus aller Welt sitzen in unseren Zügen, arbeiten in unseren Spitälern und gehen in unsere Schu­len. Die Welt ist über­all. Das überfordert uns. Aber wir haben es so gewollt.
 
 
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Wir nutzen den ganzen Globus für profitable Geschäfte und günstigen Konsum. Wir verbringen unsere freien Tage an den Sandstränden, in den Traumstädten und auf den Gipfeln aller Kon­tinente. Dabei führen wir Ferienköniginnen und –könige denen, die im Dunkeln leben, vor Au­gen, dass es auch ein Leben im Licht gibt. In einer derart vernetzten Welt – in der die einen, zufällig, in geborgenem Überfluss, die anderen in Krieg oder materiellem Elend aufwachsen – werden zwangsläufig auch Träume, Verzweiflung und Gewalt globalisiert.
 
Wenn uns die Welt zu gross und zu fremd scheint, wenn es ungemütlich zu werden droht, ver­suchen wir, die mit allen Mitteln vorangetriebene Globalisierung mit einseitigen Zäunen zu blockieren, statt ihre edelste Aufgabe zu erfüllen – die konkrete Solidarisierung mit allen Men­schen dieser vorerst nur ökonomisch und technologisch vereinten Welt. Die gegenwärtige Flüchtlingssituation scheint uns sozial, psychisch und intellektuell, logistisch und politisch zu überfordern. Und sie bedroht seit Langem das Leben beziehungsweise Überleben der be­troffenen Menschen ausserhalb Europas. Tag für Tag.
 
«Wir helfen allen, die es nötig haben.» Lautet unser humanistisches Mantra. Weil wir Empfind­samen die Vorstellung nicht ertragen, dass wir real nicht alle retten können, versuchen wir diesem moralischen Dilemma mit einem klassischen Befreiungsschlag zu entkommen: «Wir helfen allen, die es nötig haben, aber die meisten wollen nur ein besseres Leben.» Die Diffa­mierung Notleidender als Wirtschaftsflüchtlinge und der terroristi­sche Generalverdacht gegen Vertriebene schützt uns vor dem Verlust der helfenden Allmachts­phantasie, davor, zugeben zu müssen, dass wir nicht allen helfen können und wollen, dass wir Menschen auch verhungern lassen.
 
 
«Böse Menschen müssen von den Guten getötet werden.»
Dass sich der eingangs gelesene Text vom «Mann, dem die Welt zu gross wurde» immer wie­der als aktuell erweist, mag der Eitelkeit des Verfassers schmeicheln; vor allem aber ist es beklemmend, dass die Sehnsucht, die Welt in eine bessere, in meine Welt zu verwandeln, immer wieder zum vertrauten Griff nach dem Zauberstab der Gewalt führt und endlos neue Gewalt provoziert, weil allealle immer nur zurückschlagen. Das gilt für die Pariser Terrorat­tentate ebenso wie für die umgehend erfolgten Gegenschläge, denen in den letzten 15 Mona­ten bereits 7000 Luftangriffe mit französischer Beteiligung vorausgingen, worauf der langjäh­rige Nahost-Experte des Schweizer Fernsehens und Radios Ulrich Tilgner in der Arena vom 20. November 2015 hinweist. Wir werden siegen. Wir werden sie ausmerzen. Die Verlautba­rungen der Kampfpar­teien klingen verstörend ähnlich.
 
«Die Welt jagt Abdelhamid Abaaoud», titelt das Schweizer Boulevardblatt Blick am 18. November 2015 und verstärkt damit die Allmachtsträume der Pariser Attentäter, die auch das Ziel hatten, die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. Es muss dem inzwischen in den «Status: getötet» Versetzten, wie die NZZ am Sonntag schreibt, für einen Moment das Gefühl unbegrenzter Bedeutung und Macht verliehen haben, dass die Ermordung von über hundert Menschen in der Hauptstadt der westlichen Lebensart zur Zeitenwende gehypt wird. Die Botschaft wird ankommen und neue Täter mobilisieren. Mit Gewalt lässt sich leicht Ge­schichte schreiben. Gewalt ist das Fürchterliche, das so einfach zu machen und so schwer zu beenden ist. Auf allen Seiten glauben sie, was der ehemalige Sprecher des US-amerikani­schen Repräsentantenhauses, der Republikaner Newt Gingrich, kurz nach dem 13.11., twittert: «Böse Menschen müssen von den Guten getötet werden.»
 
Der von verschiedenen ausgerufene Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei erinnert an den Heiligen Krieg Gläubiger gegen Ungläubige. Vor allem aber enthält die Formel vom Krieg ge­gen die Barbarei eine doppelte Tötungs-Legitimation. Wer andere zu Barbaren entmenschlicht, gibt sie zum Abschuss frei. Wer anderen den Krieg erklärt, verschafft sich eine Tötungslizenz. Kriminellen muss der Prozess gemacht werden, feindlichen Soldaten nicht. Die Kriegserklä­rung konstituiert aber nicht nur einen Legitimationskontext für die eigene, sondern auch für die fremde Gewalt. Sie bestätigt das Selbstbild des Terroristen, der sich als Soldat und Kämpfer für eine bessere Welt sieht.
 
 
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Wie glaubwürdig ist die zivilisierte und freie Welt, die gegenüber Fremden betont, sie müssten sich zu unseren Grundwerten bekennen, müssten, beispielsweise, lernen, dass wir Konflikte gewaltfrei lösen, wenn auf einen Anschlag wie in Paris sofort mit Bombenangriffen reagiert wird, die nicht nur Terroristen und Terroristinnen treffen. Wenn jetzt in Ländern – die sich als Fahnenträger der Menschenrechte sehen – nach Wie­dereinführung von Foltermethoden wie Waterboarding oder der Todesstrafe gerufen wird, die in den Vereinigten Staaten gar nie ab­geschafft worden ist? Wenn islamistische Gewalttäter ohne gültiges Urteil als «Enemy Killed in Action», zum Beispiel mit aus der Ferne gesteuerten Drohnen, ins Jenseits befördert werden?
Nach dem Zusammenbruch des mitten im zivilisierten Europa durch Angehörige der Kulturna­tion Deutschland und mit breiter Unterstützung der Bevölkerung installierten Dritten Reiches wurde selbst den nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrechern – die für ungleich grösseren Massenmord verantwortlich waren als die IS-Terroristen – ein rechtsstaatlicher Prozess mit Verteidigung und allem DrumundDran gemacht.
 
 
Richtige Männer sind Kämpfer oder Täter, aber keine Opfer.
Warum mute ich Ihnen an diesem Brückentag, der Jugendliche mit Migrationshintergrund mit «Hallo» willkommen heisst, solche Gedanken zu? – Weil die Bilder des Terrors die Bilder be­ziehungsweise Realitäten von Flüchtlingen, Migranten und Migrantinnen zu überlagern drohen, die immer schon vorhandene Angst vor ihnen verstärken und sie einem diffusen Gene­ralver­dacht aussetzen.
 
Unabhängig davon, wer real von was und wem überfordert ist oder es noch werden könnte: Flüchtlinge sollen so sein, wie wir uns Flüchtlinge vorstellen, damit sie als echte anerkannt werden. Wer Markenturnschuhe, Goldschmuck oder Lederjacken trägt und einen dieser be­quemen Outdoor-Rucksäcke umgeschnallt hat, kann nicht wirklich in Not sein. Wer nicht ein­mal eine elektrische Pfeffermühle besitzt, also echt arm ist, muss ein Wirtschaftsflüchtling sein – auf der Suche nach einem besseren Leben, aber nicht an Leib und Leben bedroht. Und vor allem sollen es nicht so viele junge Männer sein. Immer wieder wird es vorwurfsvoll betont – zwei Drittel, vielleicht sogar 80 Prozent der Flüchtenden seien Männer.
 
Die Bilder junger Männer wecken Radikalisierungsphantasien. Die kanadische Regierung will vorerst nur noch Kinder, Frauen sowie Fami­lien aus Syrien aufnehmen. Und alleinreisende Männer, «wenn sie als Schwule besonderen Schutz benötigen.» Wie die Süddeutsche Zeitung am 25. November 2015 schreibt. In privatem Rahmen habe ich schon vor dem 13.11. den Satz gehört, Männer im wehrpflichtigen Alter sollten ihr Land verteidigen statt zu fliehen, und viele von ihnen seien vermutlich gefährlich. Das heisst, Männer aus den bekannten Kriegsgebieten, die den Weg in unsere Gemütlichkeit wählen, sind entweder Schläfer oder Fahnenflüchtige. Flüchtige junge Männer entsprechen weder unseren Flüchtlings- noch Männlichkeitskonzepten. Paradoxerweise reagieren wir ausgerechnet auf jene – denen wir mehr oder weniger offen unterstellen, sie würden, wenn sie in Massen kämen, unsere emanzi­pierten Gesellschaften in dunkle Vergangenheiten zurückstossen – mit ausgesprochen traditi­onellen Geschlechtervor­urteilen. Richtige Männer sind Kämpfer oder Täter, aber keine Opfer. Das muss gegen die schleichende Islamisierung verteidigt werden.
 
 
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Weil stereotype Bilder manchmal stärker sind als differenzierte Realitäten, müssen sie be­nannt, mit wahrnehmbarer Wirklichkeit konfrontiert und reflektiert werden. Deshalb bin ich froh, dass Menschen, von denen und über die wir heute reden, real da sind, damit wir uns mehr als nur ein Bild von ihnen machen können.
 
MörderInnen verstehen, heisst, selbst Mörder werden.
Mit der sprachlichen Formel vom «Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei» oder der Denkfi­gur des «Un-Menschen» werden Gewalt, Folter und Massenmord aus der eigenen, menschli­chen Gesellschaft exkludiert und auf die anderen, die Un-Menschen projiziert. Aber die neuere Ge­schichte hat gezeigt, dass das «Barbarische» eine Variante der Zivilisation, Gewalt, Massen­mord und Faschismus das Menschenmögliche sind. Terroristen sind keine teuflischen Kuckuckskinder; es sind ganz normale Kinder, die erst zu Verächtern des eigenen und frem­den Lebens gemacht werden – in jenen unruhigen Gegenden der arabischen Welt, in denen auch westliche Armeen immer wieder für Sterben und Töten gesorgt haben, oder aber mitten unter uns. In unseren sozioökonomischen Zusammenhängen, inklusive der globa­lisierten Gleichzeitigkeit von Fundamentalismus, Aufklärung und Postmoderne.
 
Es geht darum, den «Sinn» von Gewalt zu lesen und ihre Ursachen zu ergründen. Dass Gewalt Gründe hat, auch auf die Unfähigkeit zur Trauer zurückweist, macht sie für die Opfer nicht weniger schmerzhaft. Aber wer den Versuch, Täter (und Täterinnen) zu verstehen, als sozial­romantisches Gutmenschentum diffamiert, wer Ver­stehen mit Einverständnis gleichsetzt, hat Angst, seinerseits der Faszination von Gewalt zu erliegen, gleichsam «angesteckt» zu werden. Der oder die braucht das uneingeschränkte Unverständnis als beruhigende Selbstvergewisse­rung – so wie die bin ich nicht. Denn, so die verquere Logik, Mörder oder Mörderinnen verste­hen, heisst, selbst Mörder werden.
 
Aber, die Ameisenforscherin mutiert, nur weil sie begreift, wie so ein Ameisenhaufen funktio­niert, nicht zur Arbeiterin im Insektenstaat. Wir müssen sie allealle zu verstehen versuchen. Auch und vor allem jene, deren Gedanken, Haltungen und Taten uns zutiefst zuwider sind. Um die Opfer zu schützen, um den Tätern (und Täterinnen) wirksam entgegentreten sowie die psychosozialen beziehungsweise sozioökonomischen Voraussetzungen von Gewalt und men­schenmöglichen Gräueln, inklusive unserer eigenen Verstrickungen, nachhaltig überwinden zu können.
 
Jenseits der Dilemmata in aufgeregten Zeiten – in denen der (männliche) Zwang zu handeln Ohnmacht und Verzweiflung zu vertreiben versucht – sind sich die meisten einig: Integration ist langfristig die wirksamste Prävention, um die Welt irgendwann in einen friedlichen Ort zu verwandeln. Wer sich nicht heimisch fühlt, nicht gebraucht wird, keinen Platz hat, der eigenen Vorstellungen, Bedürfnissen und Träumen entspricht, ist vermutlich anfälliger für totalitäre Organisationen, die das Heil für grosse so­wie kleine Welten versprechen.
 
In einem Tages-Anzeiger-Interview weist der Soziologe Franz Schultheis darauf hin, in den Pariser Banlieus gebe es «50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, eine verlorene Generation, die kaum Zukunftsaussichten hat. Auch wenn die jungen Leute nicht weit weg sind von Paris, den­ken sie, sie gehören nicht dazu. Damit entsteht eine mehrfache Ausgrenzung, die enorme Ressentiments und Hass auf ein Land hervorruft, das einem Bildung und Chancengleichheit verspricht. Das führt zu extremen Spannungen. Aber sie sind noch keine kausale Bedingung, die solche Attentate erklären würde…» Die Attraktivität des IS bestehe darin, dass, aus Sicht der Jihadisten, der Underdog in Frankreich im Kalifat zum Gotteskrieger werde. 
 
 
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Die Schule ist ein Integrationsraum.
In Zeiten der Globalisierung geht die Welt (auch) in der Schweiz zur Schule. Da treffen sie aufeinander: Die Kinder derer, die aus Kriegs- und Folterzonen geflohen sind, die wegen Hun­ger oder materieller Not ihre Heimat verlassen haben. Die Söhne und Töchter von Arbeitsmig­rantinnen und –migranten – die ein Auskommen und die Bestätigung, gebraucht zu werden, suchen – oder von global gefragten «Spitzenkräften», die mit ihren Familien in Karriereschrit­ten um die Welt reisen. Im Klassenzimmer treffen sie alle auf jene «Original»-Schweizerinnen- und Schweizer, deren Familien immer schon da waren. Viele sprachliche, soziale, ökonomi­sche, kulturelle und weltanschauliche Lebenswelten, aber nur eine Schule.
 
Im Kontext politischer Wortgefechte und gesellschaftlicher Willkommens- beziehungsweise Abwehrreaktionen auf die internationalen Wanderungsbewegungen ist die Schule als Integrati­onsort gefragt. Das kleine Einmaleins und das grosse ABC sollen jene zusammenbringen, die in der Angst vor den Fremden beziehungsweise der Ausschaffung aufwachsen. Vermutlich ist Integration die grösste Leistung, welche die Schule erbringt.
 
 
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Aber was bedeutet Integration eigentlich? Wer passt sich wem an? Wer unterwirft sich wen? Oder schaffen sie gemeinsam eine neue Welt? In einer Schule, die für alle Schülerinnen und Schüler ein fremder, weil von Erwachsenen geprägter Ort ist?
 
Für «die Neue» im gleichnamigen Film ist Integration ein Reizwort. [Film-Ausschnitt]
 
Wie würden Sie auf das Kopftuch einer Schülerin reagieren, nachdem Sie gelesen haben, Winterthurer Islamisten würden Mädchen auch schon mal bezahlen, damit sie ein Kopftuch trügen? Würden Sie davon ausgehen, dass Ihre Schülerin zum Tragen des Kopftuches ge­zwungen wird? Oder glaubten Sie ihr, wenn sie – wie eine Schülerin von mir – erklärte, sie selbst wolle das, ihre Eltern hätten ihr sogar davon abgeraten?
 
Die Schülerin im Film «Die Neue» sieht im Tragen des Kopftuches, was viele von uns befrem­den mag, einen Akt der Befreiung. Jetzt verstecke sie sich nicht mehr, sagt sie. Und ist sich mit der Lehrerin einig, in einem freien Land zu leben, und das gerne. Sie weist die Zuschrei­bung «unterdrückte Frau» für sich selbst zurück, will, wie die Lehrerin, «die Deutsche», keinem kulturellen Stereotyp unterworfen werden. Der Film inszeniert das streng gläubige Verhalten der Jugendlichen auch als pubertären Protest gegen die Eltern, die offensichtlich nicht nach traditionellen Grundsätzen leben und den Glauben in den gnadenlosen Augen der Tochter verraten haben. Sie sei «ganz», wirft sie ihnen an den Kopf, das Leben der Eltern ein Scher­benhaufen.
 
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Meine Schülerin mit den täglich wechselnden, offensichtlich sorgfältig von ihr selbst bestickten Kopftüchern meldete sich für Sondertage ausserhalb der Schule ab. Sie dürfe nicht mit frem­den Männern unter dem gleichen Dach übernachten.
 
Hätte ich sie zwingen sollen? Ich, der ich an dieser Schule für das Projekt Verhandlungskultur verantwortlich war? Um sie, ungebeten, von ihrer Familie, ihrer Religion zu befreien? Wann muss ein Mensch befreit werden? Wann ist die Zuschreibung «Du wirst unterdrückt, du hast es nur noch nicht gemerkt» ihrerseits eine Form der Unterwerfung?
 
Ich vereinbarte mit ihr, sie solle an diesen Tagen teilnehmen – was sie am Ende gerne tat –, könne aber am späten Abend von ihrem Verlobten nach Hause gefahren und am anderen Mor­gen wieder gebracht werden. Ich habe in den zwei Jahren ihrer Lehrzeit regelmässig Gesprä­che mit ihr geführt, die sie offensichtlich schätzte und in denen sie meist sehr offen war. Ich hatte meine Zweifel, wie es zu dieser Verlobung gekommen war, ob und wie sehr sie sich dem Diktat ihrer Familie beziehungsweise des Verlobten unterwarf. Sie würden beide nichts ma­chen, was der oder die andere nicht wolle, erklärte sie mir. Ihre Eltern hätten Verlo­bung und spätere Heirat miteinander besprochen. Zwangsheirat wie in alten Tagen bei uns? Aber sie hätte auch Nein sagen können. Der Verlobte unterstütze sie sehr, nach der Lehre würden sie heiraten und zusammenziehen. Meinen Idealen freier romantischer Liebe entspricht so ein Leben nicht, auch dieses nicht.
 
Eine andere Schülerin – die sich bei mir beklagte, weil sie ihres etwas kürzeren Rockes wegen als Schlampe tituliert wurde – ermutigte ich, sich das nicht gefallen zu lassen und den Jupe weiter zu tragen. Einem Schüler aus dem Kosovo – der von den Frauen meiner Klasse als «übergrif­fig» kritisiert wurde – musste ich klarmachen, er habe kein Recht, eine Frau am Hintern zu berühren, wenn sie das nicht wolle; auch dann nicht, wenn sie sich das von andern Männern gerne gefallen lasse.
 
Das sind Welten, die Sie kennen und die in einer Schulklasse irgendwie zusammen funktionie­ren müssen. Vielleicht entsteht so irgendwann ein neuer, ein freier Raum, in dem Frauen sich kleiden können, wie sie wollen, ohne unter irgendeinen Verdacht zu geraten. In dem auch Männer von Geschlechter- oder kulturellen Vorurteilen beziehungsweise Zwängen befreit sind.
 
 
In der Schule sind sie alle MigrantInnen, Fremde.
Im Idealfall ist die Schule ein Integrationsraum für Menschen unterschiedlichster Geschlechter, Kulturen und sozialer Schichten. Allerdings ist die Schule auch, vielleicht sogar vor allem ein Ort der Selektion, und das ist nicht wirklich integrativ.
 
In der Schule – das verbindet die Lernenden über alle Heterogenitäten sowie unterschiedli­chen Startkompetenzen hinweg – in der Schule sind sie alle Migrantinnen, Fremde. Deshalb wird die schulische Infrastruktur von ihnen teilweise mit wenig Sorgfalt behandelt. Vandalismus im öffentli­chen Raum lässt sich auch als Versuch interpretieren, sich diesen fremden Raum doch noch anzueignen. Die Schule rechnet nicht wirklich mit den Lernenden. Sie würde, wie die meisten Institutionen, am besten funktionieren, wenn die nicht wären, für die sie gedacht ist. Schüler werden vorgegebenen Strukturen, Regelungen und Materie gewordenen Erwach­senen­vorstellungen unterworfen. Ich habe bisher nur von einer Schule gehört, in der Schülerin­nen die Lehrpersonen anstellen und entlassen beziehungsweise den Unterrichtsinhalt bestim­men.
 
Immer wieder wird beklagt, Schüler beteiligten sich zu wenig am Unterricht. Aber wer sich beteiligen soll, muss zuerst beteiligt werden. Sonst bleibt Lernen eine äussere Gebärde. Er­kenntnis- und Kompetenzgewinne können nur das Resultat einer erfolgreichen Verhandlung von Unterrichtsinhalt und -form sowie Schulkultur sein. Bildung gelingt nur, wenn die Schüle­rinnen zum Subjekt des Lernens werden. Der Gedanke, dass Schüler, auch die kleinsten, mit­bestimmen, erscheint den meisten weltfremd. Wovor haben wir Angst? Vor dem Unberechen­baren, dem ungesicherten Wissen, dem noch nicht Gedachten? Aber bedeutet echtes Lernen nicht gerade, sich vorstellen können, dass alles auch ganz anders sein könnte?
 
 

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Integration gelingt nur, wenn alle Beteiligten
zum Subjekt der Integration werden.
Was für die Schule gilt, trifft auch auf die Gesellschaft als Ganzes zu: Zusam­menleben gelingt nur, wenn alle Beteiligten, unabhängig von Herkunft und Stellung, Subjekte eines Integrations­prozesses werden.
 
«Muslime sollen sich stärker anpassen», schreibt die Gratiszeitung 20 Minuten am 23. November 2015. Eine «gewichtete Umfrage» zeige: «In der Schweiz will eine Mehrheit, dass sich Migranten besser an die hiesige Lebensweise anpassen. Zwei Drittel der 22‘000 Befragten fordern das nach den Anschlägen von Paris…»
 
Immer wieder wird verlangt, die Einwandernden müssten sich auf unsere Werte, Sitten und Sprache verpflichten. Aber wie glaubwürdig sind Integrationsforde­rungen, zum Beispiel an Ihre Schülerinnen sowie deren Eltern, wenn, im Kanton Zug, ab einem steuer­baren Einkommen von 1 Million beziehungsweise ab 20 Millionen Vermögen das Deutsch-Obli­gatorium für Zugewanderte mit Niederlassungsbewilli­gung C per Sonderrecht ausser Kraft gesetzt werden soll? «Die Forderung, Deutsch zu ler­nen», schreibt Claudia Blumer im Tages-Anzeiger am 6. November 2015, «ist unter Umständen durchaus von praktischem Nutzen. Sprachkenntnisse erhöhen die Chancen auf einen Job und mindern das Risiko, fürsorgeab­hängig zu werden. Wer aber Einkommensmillionäre in den Deutschkurs zwingen will, entlarvt, worum es bei den Forderungen nach Integration eben auch geht: um Schikane.» Sind das die europäischen Werte, an die Migranten sich anpassen sol­len?
 
Integration, die gelingen soll, setzt ganzheitliche Partizipation voraus. Damit wir nicht fremd bleiben oder werden in der Welt, in der wir leben. Wer sich beheimatet und ernst genommen fühlt, wird sich weniger isolieren, ist weniger anfällig für fundamentalistische Organisationen welcher Couleur auch immer. Wer die Begeisterung anderer ob der eigenen Existenz spürt und mit sich selbst befreundet ist, wird seltener zum Zauberstab der Gewalt greifen als jene, die, sozio­ökonomisch und soziokulturell ausgegrenzt, verzweifelt und ohnmächtig ins schwarze Loch ihrer Zukunft starren.
 
 
Echte Integration verändert alle Beteiligten und ihre Kulturen.
Wer von Fremden ultimativ Anpassung für das Recht auf das Leben in unserer Gemütlichkeit verlangt, verkennt, dass Integration weder die Unterwerfung der anderen unter die einen noch der einen unter die anderen sein kann. Für jeden Menschen muss sich die Welt ein klein wenig verändern, damit auch er einen Platz erhält, der ihr entspricht. Jeder Mensch muss lernen, sich in der Welt, in der er lebt, zu bewegen. Das ist umso schwieriger, je schnel­ler sich diese Welt ändert, je häufiger sie aufbrechen und sich in anderen Welten zurechtfin­den muss.
 
Integration gelingt nur, wenn sich die Beteiligten gelassen bewegen können, weil sie sich ihrer Identität, auch einer sich verändernden, sicher sind, und es nicht nötig haben, die eigene Identität durch Abgrenzung von anderen herzustellen. Echte Integration verändert alle Betei­ligten und ihre Kulturen. So gesehen ist es keine Verluderung unserer Sprache, wenn sie von Anglizismen und Balkanslang durchsetzt wird, sondern Indiz für eine beginnende Integration, bei der auch die Neuankommenden das gemeinsame Haus mitgestalten.
 
Stellen Sie sich einen Moment vor, ein von Ihnen geliebter Mensch, ziehe bei Ihnen ein – was darf er mitnehmen beziehungsweise aus Ihrer Wohnung entsorgen? Welche Wand darf sie blau streichen? Wann bekommen Sie das Gefühl, die andere bringe Ihre Geborgenheit durch­einander? Wann fühlt er sich fremd, weil sie nur mit fremden Löffeln isst? Oder würden Sie sich dazu entschliessen, gemeinsam eine neue Wohnung zu beziehen?
 
 
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Gesamt-Gesellschaftliche Integrationsprozesse sind natürlich ungleich komplexer, auch, weil Menschen daran beteiligt sind, die nicht gerufen wurden beziehungsweise die anderen nicht gerufen haben. Integrationsprozesse sind erfolgreicher, wenn grundlegende Regeln und For­men des Zusammenlebens ausgehandelt werden, sich also keine oder keiner dem oder der anderen unterwirft. Allerdings, Verhandlungen – auch in Ihrem Schulzimmer – gelingen nur, wenn klar und gemeinsam festgelegt wird, was verhandelbar ist, was nicht; wenn die Verhan­delnden transparente Spielregeln definieren.
 
 
Das Primat der Menschenrechte
Auch wenn das verbale Bekenntnis aller Staaten zu den Menschenrechten noch lange nicht allen Menschen im realen Leben zu ihrem Recht verholfen hat, kommen, denke ich, nur die Allgemeinen Menschenrechte als gemeinsame und nicht verhandelbare Grundlage eines inter­kulturellen Integrations­prozesses in Frage. Ich weiss, es gibt eine Debatte auch über dieses Primat der Men­schenrechte und einen komplexen Diskurs darüber, was das im Einzelnen heisst. Aber es sprengt den Rahmen meiner Ausführungen, die sich ihrem Ende nähern, sämt­liche Ambivalen­zen zu reflektieren.

 

 
Das Primat der Menschenrechte bedeutet beispielsweise – die körperliche Unversehrtheit von Mädchen über das religiöse oder kulturelle Ritual der Beschneidung zu stellen. Das wird in diesem Raum, vermute ich, kaum bestritten sein. Aber was, wenn ich den Satz «Dasselbe gilt für die Beschneidung von Knaben» nachschiebe?
 
Wahrscheinlich wären die meisten von Ihnen mit mir einverstanden, dass eine Schülerin, wenn von ihr gewünscht, gegen ihre Eltern davor geschützt werden müsste, eine Burka tragen zu müssen, ein Schüler unterstützt werden müsste, der nicht mit einer ungeliebten Frau verhei­ratet werden will. Aber weshalb ist in unserer Kultur die Mitgliedschaft in juristischen Perso­nen, das heisst Parteien, Genossenschaften, Aktiengesellschaften usw., ausschliesslich voll­jährigen und ur­teilsfähigen Personen vorbehalten, während Säuglinge, die weder Ja noch Nein sagen können, ganz selbstverständlich zu Mitgliedern christlicher und anderer Religionsge­meinschaften ge­tauft werden können?
 
Könnte, als konkretes Beispiel, im Rahmen eines Integrationsprozesses, basierend auf den Menschenrechten, auf solche Zwangskonfessionierung verzichtet und ausgehandelt werden, dass auch der Beitritt zu Kirchen, Religionen und Sekten aller Art juristische Handlungsfähig­keit voraussetzt? Wäre unsere Kultur bereit, sich in diesem Punkt zu bewegen? Im Interesse einer gelingenden Integration, die alle zu anderen macht?
 
 
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Für einige eine Zumutung, ich weiss. Aber Verhandeln ist – im Gegensatz zur Gewalt, dem Fürchterlichen, das so leicht zu machen ist –, Verhandeln ist das Friedfertige und Menschen­mögliche, das so schwer zu leben ist. Die Einlösung von Utopien war noch nie einfach, aber sie wird mehr und mehr notwendig, wenn die Welt – die vielen von uns zu gross geworden ist – den Menschen ein Lebensraum bleiben und eine Heimat, Menschen einander endlich Mensch werden sollen. Ohne Mühsal und Streit, auch in Ihren Schulzimmern, wird es nicht gehen. Aber: I never promised you a rose garden.