Joseph Massad: Die Palästinenser und das Dilemma der Solidarität

Liebe Leserinnen und Leser,
 
anbei präsentieren wir Ihnen die deutsche Übersetzung dieses genialen und mutigen Artikels von Prof. Joseph Massad der Columbia Universität.
 
Wir freuen uns auf Ihre Kommentare hierzu an info@promosaik.com
 
dankend
 
Dr. phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V.
 
 
 
 
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Die Palästinenser im heutigen Israelmarsch auf den Ländereien der zerstörten Dörfer neben Tiberias am 23. April. 
 
 
 
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In den frühen 1990er Jahren gab die Solidarität mit dem palästinensischen Volk nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der darauffolgenden Zusammenarbeit der Palästinensischen Befreiungsorganisation mit den USA und Israel, um den antikolonialistischen Kampf der Palästinenser durch das Oslo-Abkommen zu vereiteln, auf internationaler Ebene nach. In den letzten Jahren kam diese Solidarität aber wieder auf, und dies vor allem mit der zunehmenden Unterstützung der palästinensischen BDS-Kampagne, um Israel zu boykottieren, von Israel zu desinvestieren und Sanktionen gegen Israel zu verhängen. 

Nachdem die internationale Unterstützung der Palästinenser nach 1991 auf der Ebene der Staaten und Zivilgesellschaften abgeklungen war, gelangten viele ursprüngliche Oslo-Befürworter zur Erkenntnis, dass die Abkommen nur ein Trick waren, um die israelische Kolonisierung voranzutreiben, und es kam zu einer Wende. Dies gilt vor allem für die Zivilgesellschaften Westeuropas und Nordamerikas, aber auch und zunehmend für die europäische Regierungspolitik, mit den neueren kritischen Stimmen in der Verwaltung Obama, dass sich die politische Linie angesichts des jüngsten Wahlsieges des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seiner offenen Erklärung, nach der es während seiner Amtszeit keinen palästinensischen Staat geben wird, auch ändern könnte. Eine kurze Zusammenfassung dieser Abnahme und der darauffolgenden Wiederaufnahme der pro-palästinensischen Solidarität sind notwendig, um die jüngsten Solidaritätsstrategien zu verstehen und zu analysieren und die anti-palästinensischen Gegenstrategien der israelischen Regierung und ihrer Verbündeten zwecks Bekämpfung dieser Solidaritätsstrategien zu verstehen. 

Der „Friedensprozess“ nach 1990, der mit der Konferenz von Madrid 1991 seinen Anfang nahm, führte zu wesentlichen Veränderungen in der globalen pro-palästinensischen Solidarität. Während die internationale Gemeinschaft bis zu jenem Zeitpunkt das Rückkehrrecht der Palästinenser in ihre Heimat in einer UN-Resolution unterstützt hatte, die Jahr für Jahr wiederholt wird, so unterstützt sie jetzt wenn überhaupt eine Form von Entschädigung. Während der Großteil der internationalen Gemeinschaft die Auflösung Israels als rassistische Siedlerkolonie nach der UN-Resolution von 1975, die den Zionismus als „eine Form des Rassismus und der ethnischen Diskriminierung“ bezeichnete, einleiten wollte, hob der Großteil der internationalen Gemeinschaft dieselbe Resolution innerhalb von 1991 wieder auf. Während der Großteil der internationalen Gemeinschaft damals entschied, Israel (zusammen mit Apartheid-Südafrika und Taiwan) als einen der drei Paria-Staaten diplomatisch zu isolieren, so pflegt nun der Großteil der internationalen Gemeinschaft diplomatische Beziehungen zu Israel. 

Das einzige Recht der Palästinenser, das der Großteil der internationalen Gemeinschaft noch anzuerkennen scheint, ist das Recht auf einige Gebiete des Westjordanlandes und das Recht der Palästinenser in Gaza (nicht aber der Palästinenser in Jerusalem) auf Selbstbestimmung und das Ende der israelischen Besatzung von Teilen des Westjordanlandes und von Gaza (ohne Ostjerusalem). Das Widerstandsrecht der Palästinenser gegen die Besatzung, das vorher globalere Unterstützung gefunden hatte, unterstützen nach Oslo nur noch wenige. Dieser Unterstützungsausfall beschränkte sich aber nicht auf Staaten und Regierungen, sondern schloss auch politische Bewegungen, Aktivisten und Einzelpersonen ein. 

In den 1960er und 1970er Jahren äußerte sich die Palästinensische Befreiungsorganisation ganz klar über die Bedeutung des zionistischen Kolonialismus. Yasser Arafat artikulierte sie in seiner berühmten Rede von 1974 und in anderen Erklärungen der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Die Diagnose des Zionismus war klar: er ist eine rassistische und kolonialistische Bewegung, die selbst Juden diskriminiert und mit dem Imperialismus gemeinsame Sache macht; Israel ist ein rassistischer Kolonialstaat, der die palästinensischen Bürger diskriminiert und den anderen vertriebenen Palästinensern das Rückkehrrecht abspricht; Israel ist eine Siedlerkolonie, die das Ziel der territorialen Expansion und des Landraubs gegenüber den Nachbarländern verfolgt.

Die Lösung war somit trotz der Notwendigkeit ihrer Ausarbeitung ganz klar: sie sah die Gründung eines säkularen, demokratischen Staates im gesamten Gebiet des palästinensischen Mandats vor, in dem Araber und Juden dieselben Rechte haben. Und in diesem Kontext erklärten die internationale Unterstützung und Solidarität auf offizieller und inoffizieller Ebene den Zionismus zu einer rassistischen Ideologie. Das Rückkehrrecht der vertriebenen Palästinenser in ihre Häuser und Ländereien wurde unermüdlich wiederholt. Es wurde auch behauptet, dass den Palästinensern ein legitimes Recht zusteht, Widerstand gegen die Besatzer zu leisten.

Der palästinensische Guerillakampf fand enorme, internationale Unterstützung und schloss Freiwillige ein, die sich Ende der 1960er und dann in den 1970er Jahren den Fidayyin-Kämpfern in Jordanien und Libanon anschlossen. Sie stammten aus der ganzen Welt; aus Japan, Spanien, Italien, Deutschland, Argentinien, Nicaragua, Iran, Südafrika, der Türkei und aus der gesamten arabischen Welt. Obwohl die meiste Unterstützung aus der Dritten Welt kam, zeigten viele westeuropäische Länder ihre Solidarität mit den Palästinensern unter anderen Formen, indem sie in ihren Heimatländern für sie demonstrierten oder schrieben und sich der Unterstützung Israels durch ihre eigenen Länder widersetzten. Frankreich wurde sogar von Jean Genet vertreten, der nach Amman kam, um den palästinensischen Kampf zu dokumentieren. 

Die arabische Solidarität mit den Palästinensern entsteht schon 1917. Izz al-Din al-Qassam, der erste palästinensische Fidai- oder Guerillakämpfer, dessen Tötung durch die britischen Besatzer 1936-39 zum großen palästinensischen Aufstand gegen die britische und zionistische Kolonisation führte, kam aus dem heutigen Syrien und war keine Ausnahme. Arabische Freiwillige schlossen sich auch im Dezember 1947 nach dem zionistischen Angriff und der zionistischen Invasion des Landes, die zur Vertreibung der meisten Palästinenser führte, dem palästinensischen Kampf an. Es entspricht auch der Wahrheit, dass die arabischen Staaten Mitte Mai 1948 offiziell eingriffen, um die zionistische Vertreibung aufzuhalten (innerhalb des 14. Mai 1948 hatte die einmarschierende zionistische Armee bereits 400.000 Palästinenser vertrieben) und dass die Gründung der jüdischen Siedlerkolonie einen massiven Druck der arabischen Welt verursachte, obwohl das Hauptziel der intervenierenden Länder in der Sicherung der regionalen Hegemonie ihres eigenen Regimes bestand.  

Konzessionen der Palästinensischen Befreiungsorganisation

Als die palästinensische Befreiungsorganisation in ihrer Vision und Mission zu schwanken begann und den Weg hin zur Anerkennung des Rechts Israels, ein rassistischer Staat zu sein, einschlug und unter der US-Schirmherrschaft 1991 in Madrid zu verhandeln begann, gerieten die internationalen Freunde Palästinas in einen Zustand vollkommener Verunsicherung. Die erste große Konzession, die der Palästinensischen Befreiungsorganisation in Oslo abverlangt wurde, war die Genehmigung, den internationalen Consensus hinsichtlich des Zionismus als Rassismus zurückzuweisen und ihn mit dem US-israelischen Consensus zu ersetzen, nach dem Israel, die einzige Demokratie des Mittleren Ostens, in Grenzstreitigkeiten mit den Nachbarn verwickelt war.

Wie erwähnt, war eine der ersten Errungenschaften dieses neuen Consensus die 1991 von den USA und Israel befürwortete und durchgeführte Aufhebung der Resolution von 1975. Dieselben Staaten, welche die Resolution von 1975 unterstützt hatten, unterstützten 1991 ihre Aufhebung. Während die UN-Resolution 3379 von 1975 von 72 Ländern (mit 35 Gegenstimmen und 32 Enthaltungen) unterstützt wurde, wurde die Aufhebung von 1991 von 111 Ländern (mit 25 Gegenstimmen und 13 Enthaltungen) unterstützt. Offensichtlich war der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks der größte Verlust für die Palästinafrage bei den Vereinten Nationen. Die Meinungsänderung der Freunde und Verbündeten der Dritten Welt und der Bewegungen und Einzelpersonen weltweit wurde aber mehr durch die Konzessionen der Palästinensischen Befreiungsorganisation als durch jeglichen anderen Faktor bewirkt.

Wie ich bereits vor 12 Jahren in einem Artikel über die Solidarität nach Oslo hervorgehoben habe, war der Zionismus in seiner Ideologie und Praxis wie immer rassistisch geblieben; es war nur die Palästinensische Befreiungsorganisation, die ihn nicht mehr wegen dieses Rassismus verurteilen wollte. Die Verbündeten der Palästinenser, meinten einige, dürften doch nicht mehr pro-palästinensisch sein als die Palästinensische Befreiungsorganisation selbst. Seit der Madrider Konferenz und vor allem nach Oslo, begannen Arafat und seine alten Freunde, Vorschläge und Ideen bezüglich der Gestattung des Rückkehrrechts der Palästinenser in Umlauf zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt begann der Großteil der internationalen Gemeinschaft, der das Rückkehrrecht der Palästinenser unterstützt hatte (inklusive der USA bis Mitte der 1990er Jahre), zu schwanken. Bezüglich der Legitimität des palästinensischen Widerstandes gegen die Besatzung und den Rassismus, erkannte Arafat diesen, im Auftrag der USA, als „Terrorismus“ an und „verzichtete“ in den späten 1980er Jahren darauf, um die Bedingung für einen Dialog mit den USA, der dann nie zustande kam, zu erfüllen.

Unter Berücksichtigung von Oslo, beendeten Arafat und die palästinensische Autonomiebehörde (die nach den Oslo-Abkommen eingerichtet wurde) die erste Intifada und verpflichteten sich auch zur Bekämpfung der zweiten. Verbündete und Freunde begannen demzufolge ihre Unterstützung des palästinensischen Widerstandes in Frage zu stellen. Als Arafat das Oslo-Abkommen abschloss und die Palästinensische Befreiungsbewegung zur gleichen Zeit, infolge der Überspielung durch die palästinensische Autonomiebehörde, von einer Befreiungsbewegung in eine Institution der israelischen Besatzung verwandelt wurde, wunderten sich all jene Länder, die Israel diplomatisch boykottiert hatten, warum sie den Boykott weiterführen sollten, wenn die Palästinensische Befreiungsbewegung und Arafat schon diplomatische Kontakte mit einem kolonialistischen Staat, der den Rassismus institutionalisierte und legalisierte, aufgenommen hatten. Arafats Deal beendete somit die internationale diplomatische Isolation Israels.

Die Aufhebung dieser wichtigen Errungenschaften, die Israel in den Augen des Großteils der internationalen Gemeinschaft als einen rassistischen, kolonialistischen Außenposten erscheinen ließen, schlug sich nicht nur auf offiziellem Niveau, sondern auch in den politischen Bewegungen und Einzelpersonen, für die die Palästinensische Befreiungsbewegung und Arafat Symbole des Kampfes gegen Kolonialismus und Rassismus waren, nieder. Dieselben Menschen schlossen sich dem internationalen Chor der Befürworter des Oslo-Abkommens an. Oslo sollte den Weg hin zur Lösung des neubenannten „palästinensisch-israelischen Konfliktes“ sein, mehr als den zionistischen Kolonialismus und Rassismus zu beenden.

Auslieferung der Palästinenser

Wenn wir auf die Geschichte der internationalen Solidarität mit den unterdrückten Völkern blicken, finden wir zahlreiche Beispiele einer nationalen Führung, die einen Kompromiss eingeht. Wie ich bereits in meinem Artikel von 2003 hervorgehoben habe, bewegte die kollaborationistische südvietnamesische Regierung von Nguyen Van Thieu beispielsweise nicht diejenigen, die sich auf internationaler Ebene für den vietnamesischen Freiheitskampf einsetzten. Der kollaborationistische Ministerpräsident Mangosuthu Buthelezi von KwaZulu Bantustan setzte sich auch nicht für diejenigen ein, die den südafrikanischen Kampf unterstützten. Diejenigen, die das Ende der Siedlerkolonie in Rhodesien unterstützten, änderten nicht deren Standpunkte infolge des Triumphs des ZANU Robert Mugabe gegen den ZAPU Joshua Nkomo. Ähnlich änderten auch die Befürworter der iranischen Revolution nicht deren Meinung über die Beschaffenheit des Schahregimes und die Notwendigkeit, ihn zu stürzen, als Khomeini die Macht übernahm. Auch die Befürworter der Revolution gegen Haile Selassie in Äthiopien änderten ihre Meinung nicht, als der herrschende Militärrat Derg unter Mengistu Haile Mariam die Macht übernahm.

Die Tatsache, dass Arafat und die Palästinensische Befreiungsbewegung ihren Widerstand gegen das rassistische Israel einstellten und sich selbst in der Gestalt der palästinensischen Autonomiebehörde in Besaztungsvollstrecker verwandelten, während sie sich im Schatten ihrer vorherigen antikolonialistischen Geschichte sonnten, täuschte viele, die durch die Unterstützung dieser Veränderung die international Solidarität kompromittierten. Die dauernde Unsicherheit Israels hinsichtlich Arafats als geeignetsten Führer der palästinensischen Auslieferung basiert auf seiner Ablehnung, den israelischen Anforderungen vollkommen zu entsprechen und ist nicht auf seinen Kampf gegen den israelischen Rassismus und Kolonialismus zurückzuführen. Jene Länder, Gruppen und Einzelpersonen, die die internationale Solidarität bildeten, ließen diese Unterscheidungen nicht zu und weigerten sich auch, solche Unterscheidungen vorzunehmen.
Diese Verwirrung und dieses Scheitern eines Teils der internationalen Befürworter sind wie erwähnt auf das Fehlen einer geschlossenen palästinensischen Bewegung, die eine Alternative zu Arafat und der palästinensischen Autonomiebehörde bieten konnte, wie Nelson Mandela und der African National Congress zu Buthelezi oder die Viet Minh zu Thieu, zurückzuführen.

Aber obwohl dieser Aspekt einen wichtigen Teil der Analyse darstellt, ist er nicht ein ausreichendes und vollkommen überzeugendes Argument, da er die Tatsache nicht berücksichtigt, dass es infolge der Politik Arafats und Israels nun so ist, dass Arafat und seine Nachfolger die einzigen verfügbaren Führer der Palästinenser blieben. Israel hatte in den fünf vorherigen Jahrzehnten palästinensische Führer weltweit ermordet, während es gerade die Führung Arafats und sein Machtmonopol waren, die das Aufkommen anderer Führungspersönlichkeiten verhinderten.

Neue Solidarität

Trotz der Verwirrung und Unordnung, in die Arafats Konzessionen die Freunde und Verbündeten der Palästinenser gestürzt haben, rufen diese letzteren weiterhin weltweit zur Unterstützung auf und inspirieren überall die Solidarität. Falls die Staaten, die die Palästinenser vor Oslo unterstützt hatten, nach Oslo durch die Macht der USA und Israel eingeschüchtert wurden, so wurden aber nicht alle politischen Bewegungen, Intellektuelle und Aktivisten mundtot gemacht.
Zahlreiche Menschen aus aller Welt begannen nach 2001 ins Westjordanland und nach Gaza zu kommen, um den Kampf gegen die Besatzung zu unterstützen und das Leben der Palästinenser zu schützen.

Die Gründung der von Palästinensern geführten International Solidarity Movement (ISM) im Jahre 2001, während der zweiten Intifada, brachte zahlreiche weiße Westeuropäer, Amerikaner und Australier in die besetzten Gebiete, wo sie gewaltfreien Widerstand leisteten, um die Palästinenser vor den israelischen Soldaten zu schützen — im Besonderen im Falle kolonialistischer Vertreibungen, Hauszerstörungen, Landkonfiszierungen und anderer Formen täglicher militärischer Gewalt Israels und der Gewalt der jüdischen Siedler. Des Weiteren versuchten die ISM-Aktivisten die tägliche Unterdrückung der Palästinenser im Westjordanland und in Gaza zu dokumentieren.
Israel bekämpft die ISM. Aktivisten der Bewegung werden ermordet, verletzt und belästigt. Die Israelis werfen ihnen Zusammenarbeit mit dem „Terrorismus“ vor, weisen viele Freiwillige aus und verbieten ihnen die erneute Einreise. 

Die Begründung der ISM: die internationalen weißen Freiwilligen könnten die dunklen Palästinenser besser vor dem rassistischen israelischen Militär schützen, da dieses weniger Skrupel hätte, Palästinenser zu erschießen als weiße Europäer und Euroamerikaner. ISM erkannte aber nicht, dass das weiße Privileg nicht mehr tragbar ist, sobald ein Weißer gegen den weißen europäischen und euroamerikanischen Consensus verstößt. ISM zieht aus dem eigenen Leid die folgende Lehre: das israelische Militär zögerte kaum, diese weißen amerikanischen, europäischen und australischen Freiwilligen kaltblütig zu erschießen. Es kam auch kaum ein flüsternder Protest vonseiten der Regierungen dieser Freiwilligen.

Die Amerikanerin Rachel Corrie ist vielleicht der bekannteste Fall, aber es gibt auch andere, wie den britischen Staatsbürger Tom Hurndall und Schwerverletzte wie den Amerikaner Tristan Anderson. Der israelischen Militärangriff von 2012 gegen Dutzende von ISM-Radfahrern, die aus Solidarität mit den Palästinensern durch das Land fuhren, führte zu mehreren Verletzungen und zeigte Israels Willen, die international Solidarität um jeden Preis zu bekämpfen.

Neben der ISM, schrieben und sprachen viele andere in Publikationen und Foren weltweit für die Palästinenser. Und noch mehr Menschen demonstrierten und protestierten in den europäischen Hauptstädten und in den Städten Nordamerikas und der arabischen Welt gegen die israelische Gewalt, während andere Kampagnen ins Leben riefen, um von Israel zu desinvestieren und das Land oder die US- und europäischen Firmen zu boykottieren, die ihre Ausstattung für die kolonialistische Politik an Israel verkaufen. Dies war eine wichtige, zukunftsweisende Unterstützung. Sie findet sich in der Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel oder PACBI wieder, die 2004 im Westjordanland gegründet wurde, und in der Gründung des Boycott National Committee (BNC) und im Aufruf von Juli 2005 der palästinensischen Zivilgesellschaft zu Boykott, Desinvestment und  Sanktionen.

Zusätzlich zu PACBI, gründeten Ali Abunimah und weitere Kollegen 2001 ihre wichtige Online-Zeitschrift  The Electronic Intifada, um die Verbündeten der Palästinenser über deren täglichen Kampf gegen die brutale Besatzung zu informieren. Die Zeitschrift ist zu einer der wichtigsten Informationsquellen für die internationale Solidarität. Abunimah ist zu einem Powerhouse, ja zu einer wahren Einmannlobby geworden, die unermüdlich gegen die Fehl- bzw. Falschinformation über die Palästinenser in den westlichen Medien kämpft.

In der Zwischenzeit bewirkte die israelische Blockade des Gazastreifens seit 2005 eine neue Art von Solidarität mit den besetzten Palästinensern in Gaza durch die Flotillas und Konvois, die das Ziel verfolgten, die israelische Belagerung und die zusätzliche Sperre des  Mittäters Ägypten aufzuheben. Das israelische Militär erkannte die Gefahr eines solchen Verstoßes gegen Israels Gebot und bekämpfte die Flotillas und verbot ihnen, Gaza zu erreichen, bis zu dem Punkt, dass es im Mai 2010 alle Boote der Gaza Freedom Flotilla vereinnahm und neun türkische Aktivisten auf dem größten Schiff, Mavi Marmara, in einem Massaker in internationalen Gewässern ermordete.

Mit der israelischen Unterdrückung der Palästinenser, die in allen Bereichen intensiviert wurde, begann die Verbreitung der BDS-Kampagne in den westlichen Universitäten, Gewerkschaften und unter Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen. Einige besuchten Palästina, um die Auswirkungen der israelischen Besatzung persönlich zu erleben und unbewusst auch den Kampf der Palästinenser im Westjordanland und in Gaza und von zwei Drittel der im Exil oder unter der kolonialistischen und rassistischen israelischen Gesetzgebung im heutigen Israel lebenden Palästinenser aufzuzeigen. 

Obwohl die meisten dieser Besucher ehrlich und authentisch sind, ist zu befürchten, dass dieses Phänomen nur auf den Solidaritätstourismus hinausläuft, für den die westlichen Wohltäter im 20. Jahrhundert bekannt sind – man denke an die Reisen in die Sowjetunion in den 1920er Jahren, an die Zuckerernten in Kuba in den 1960ern und an die Kaffeeernten und den Hausbau in Nicaragua in den 1980ern  — ohne aber, jenseits des symbolischen, einen realen oder nachhaltigen Einfluss auszuüben. Es stimmt zwar, dass die Besucher durch die persönliche Erfahrung der Grauen der Besatzung gegen die israelische Politik schreiben und sich mit mehr Autorität dagegen auflehnen können. Aber es ist doch besorgniserregend, wenn diese die absolute Grenze ihrer Solidarität darstellt.

Diese Form des Solidaritätstourismus unterscheidet sich sehr von der Solidarität vieler, die sich internationalen Brigaden zwecks Unterstützung der Spanier während des Bürgerkrieges gegen die faschistischen Kräfte oder in den 1930ern und späten 1960ern massiv an die palästinensische Guerilla und die Flotillas zwecks Aufhebung der Gaza-Blockade anschlossen. Solche Solidaritätstouren gab es aber nicht während der südafrikanischen Apartheid oder des rassistischen Regimes in Rhodesien. Es gab auch keine Reisen nach Algerien während der Kolonialzeit, obwohl Frantz Fanon und andere internationale Aktivisten den antikolonialistischen Kampf in der französischen Kolonie unterstützten.

Anders als die pro-palästinensischen Solidaritätsbesucher nach dem 11. September schlossen sich die Unterstützer des israelischen Rassismus und Siedlerkolonialismus seit 1947-48 aktiv den Kampfeinheiten der israelischen Eroberungsarmee an, um eine koloniale Ansiedlung voranzutreiben und die einheimische Bevölkerung zu vertreiben. Während die Solidaritätswelle mit den Palästinensern im Verlauf der Zeit verschiedene Schritte durchlief (Anschluss an die Kampfeinheiten, externe diplomatische Unterstützung, Schreiben für sie und Organisation von Solidaritätsdemos mit ihnen, Besuch der besetzten Gebiete, um die Palästinenser gewaltlos gegen eine gewaltige Besatzung und in Flotillas vor der Gazaküste zu schützen, Solidaritätstourismus), haben die Unterstützer des israelischen kolonialistischen Rassismus ihre Solidaritätsformen oder –taktiken nie geändert.

Schließlich befassten sich gewisse Solidaritätsgruppen vor kurzem mit dem Thema des Gesetzes und im Besonderen mit der Frage des internationalen Gesetzes und der Palästinenser. Fähige palästinensische Bürgerrechtsanwälte israelischer Staatsbürgerschaft setzten sich mit gemischter (meist erfolgloser) Bilanz für den Schutz der drittklassigen palästinensischen Bürger der jüdischen Siedlerkolonie ein. Zudem wurde das Thema in aufgeschlossenen Fakultäten von US-Universitäten als eines der gefahrlosesten Diskussionsthemen behandelt.

Das Gesetz war immer schon eine der konservativsten Institutionen, wenn nicht Referenzen. Die Vor- und Nachteile der israelischen Verstöße gegen das internationale Gesetz und die unterzeichneten Verträge waren und sollten auch in Zukunft ein wichtiges Werkzeug für die Palästinenser und ihre Befürworter darstellen (persönlich habe ich auch schon über die gesetzlichen Forderungen, die Israel anführt, um sich selbst zu rechtfertigen, geschrieben). Aber diese übermäßige Fokussierung auf die Frage des internationalen Gesetzes zeugt von einem liberalen, sicheren Ansatz, der dem pro-israelische Publikum und den pro-israelischen Fakultäts- und Universitätsleitern nicht vor den Kopf stoßen würde. So würde man aber riskieren, den hundertjährigen, antikolonialistischen Kampf der Palästinenser gegen den Zionismus auf eine gesetzliche Frage zu reduzieren. Somit bräuchte Israel seine Kolonialpolitik nur gemäß dem internationalen Gesetz umsetzen, ohne dagegen zu verstoßen. Diese Überbetonung des gesetzlichen Aspektes in zahlreichen Universitäts-Campus ist ein riskanter Weg, denn er ignoriert die Kolonialgeschichte und die Beschaffenheit des internationalen Gesetzes und verfolgt das Ziel, am wesentlichen Verständnis und der Analyse der palästinensischen Situation als Kolonialismus zu rütteln. Dieses Bewusstsein ist nun in der pro-palästinensischen internationalen Solidarität im Rahmen des BDS-Engagements vorhanden.
Zweifelsohne heben PACBI und BNC die gesetzliche Frage und die des internationalen Gesetzes hervor. Dieses gilt nämlich, wie bereits hervorgehoben, als wesentliches Werkzeug für den palästinensischen Kampf, aber im Gegensatz zum sicheren liberalen und reduktionistischen Ansatz ist für diese das internationale Gesetz nicht das einzige Werkzeug des palästinensischen Widerstandes mit dem Ausschluss der Anderen, aber eines der zentralen Themen, die den palästinensischen Widerstand unterstützen können.

BDS-Bekämpfung

Der großartige Erfolg der BDS-Kampagne an den westlichen Universitäten und zunehmend in den europäischen Gewerkschaften, akademischen Vereinen und auf dem künstlerischen Gebiet ist eine so große Errungenschaft, dass die internationalen Machthaber zwei gleichzeitige Strategien zwecks Bekämpfung derselben verfolgen. Die dritte, untergeordnete Strategie lässt sich von den beiden ersten ableiten.

(1) Frontaler Kampf gegen BDS, indem man pro-palästinensische Universitätsdozenten aberkennt, bereits angestellten Lehrern, Studenten und Künstlern die Meinungsfreiheit abstreitet und die Organisation von Konferenzen, Ausstellungen, Vorstellungen und anderen damit verbundenen Veranstaltungen verhindert oder sabotiert. Diese Unterdrückungsformen im akademischen und kulturellen Bereich gehen parallel zu einer Unzahl repressiver Maßnahmen der Regierung und legislativer Initiativen mit dem Ziel, andere BDS-Formen, vor allem im Bereich des wirtschaftlichen Boykotts gegen Israel, zu bestrafen oder zu verhindern;

(2) BDS-Kooptation, wie viele europäische Regierungen vor kurzem versucht haben, indem sie behaupteten, BDS wäre eine Maßnahme zwecks ausschließlicher Durchsetzung irgendeiner Form von Zweistaatenlösung gemäß den kolonialen, von der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel unterzeichneten Abkommen, die sich Israel schon immer zu befolgen weigerte und

(3) Eine untergeordnete Strategie versucht die Hauptthemen der kolonialen Situation in Palästina auf eine Gesetzesfrage abzuschwächen und den palästinensischen Aktivismus durch eine verwässerte, akademische Form von „Palästinastudien“ zu ersetzen, die eine der beiden oben angeführten Strategien unterstützen: (a) Dem Lehrkörper und den Studenten kann nun vorgeworfen werden, sie würden pro-palästinensischen „Aktivismus“ betreiben, anstatt sich akademischen Formen der „Palästinastudien“ zu widmen. Demzufolge kann ihnen dieser Aktivismus im Namen der strikten wissenschaftlichen Fächer verboten werden. Dadurch wird die erste Strategie unterstützt. (b) Das Angebot „objektiver“ gesetzlicher akademischer Maximalbewertungen, die die Palästinenser durch die zweite Strategie erreichen können. Diese untergeordnete Gegenstrategie hat eine Anzahl palästinensischer Amerikaner und anderer Gelehrter kooptiert, die nun im Marketinggeschäft der palästinensischen Studien und Ausschüssen über Palästina und das internationale Gesetz tätig sind.

Diejenigen, die mit den Palästinensern solidarisieren, müssen jederzeit sehr wachsam sein und diese drei Gegenstrategien meiden. Da der kolonialistische Feind der Palästinenser sehr mächtig ist, ist das Schicksal des palästinensischen Kampfes und somit auch der internationalen Solidarität in der Schwebe. Daher müssen die Palästinenser weiterhin die Kernprinzipien des palästinensischen Kampfes gegen den Kolonialismus betonen. Im Besonderen geht es darum: die Beendigung des israelischen Staatsrassismus innerhalb der Grenzen des heutigen Israels zwecks Herbeiführung der Gleichberechtigung der palästinensisch-israelischen Staatsbürger mit den jüdischen Staatsbürgern in Israel; Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge und Beendigung der kolonialistischen Besatzung des Westjordanlandes, inklusive der Gebiete von Ost-Jerusalem und Gaza. 

Im 67. Jahr der jüdischen Siedlerkolonie, die auf den Trümmern Palästinas errichtet wurde, sollte erneut betont werden, dass das pragmatische Zugeständnis an verschiedene Aspekte des israelischen Rassismus und Kolonialismus keine dauerhafte Gerechtigkeit und keinen dauerhaften Frieden für die Palästinenser bringen wird. Und gerade darauf beharren die internationalen Machthaber und deren palästinensische und nicht-palästinensische liberale Unterstützer. Vielmehr ist es das Ende des zionistischen, kolonialistischen Unterfangens, das mit dem Abbau (und nicht der Reform) aller errichteten rassistischen und kolonialistischen, gesetzlichen und institutionellen Strukturen beginnt. Das ist die Voraussetzung für eine dauerhafte Gerechtigkeit und einen dauerhaften Frieden für alle Bewohner des historischen Palästinas. In diesem Bereich dürfen sich alle, die mit Palästina solidarisieren, auf keinerlei Kompromiss einlassen. 

Joseph Massad ist Professor für moderne arabische Politik und akademische Geschichte an der Columbia University. Er ist der Autor des vor kurzem erschienenen Buchs Islam in Liberalism.

Original: 
http://electronicintifada.net/content/palestinians-and-dilemmas-solidarity/14518?utm_source=EI+readers&utm_campaign=ccdfd4ae27-RSS_EMAIL_CAMPAIGN&utm_medium=email&utm_term=0_e802a7602d-ccdfd4ae27-290654821

 
Deutsche Übersetzung: Dr. phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V.