Interview mit Stefania Arru über den Ehrenmord: ein Vergleich zwischen Italien und Türkei

Von Milena Rampoldi, ProMosaik. Hier im Folgenden mein Interview mit Stefania Arru über ihre Magisterarbeit in Strafrecht von 2015 bei der italienischen Insubria Universitätzum Thema des Ehrenmordes, der in dieser Arbeit komparatistisch analysiert wird. Die Arbeit fokussiert auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Italien und der Türkei.
 
Milena Rampoldi: Welche möglichen Definitionen gibt es für den Ehrenmord und welche ist Ihrer Meinung nach die passendste?
Stefania Arru: Der Ehrenmord ist ein Phänomen, das mit der Kultur einer Bevölkerung zusammenhängt. Er ist eine brutale Praxis bzw. Tradition, die im Besonderen das Leben von Mädchen und Frauen bedroht. Es ist ein Verbrechen, das sich in den vier Wänden ereignet. Seine Erscheinungsformen sind wirklich zahlreich. Persönlich definiere ich den Ehrenmord als eine Handlung extremer Gewalt, der in den Traditionen einer patriarchalischen Gemeinschaft verankert ist und vor allem begangen wird, wenn die Frauen Verhaltensweisen an den Tag legen, die hauptsächlich im sexuellen Bereich nicht den von der Gesellschaft auferlegten Regeln entsprechen und demzufolge für die Familie eine „Schande“ sind. 
Milena Rampoldi: Meines Erachtens verfolgt der Ehrenmord am Ende das Ziel der Kontrolle der Frau, ihrer Sexualität und ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Stellung. Was denken Sie darüber?
Stefania Arru: Ich stimme dem zu, wenn man die türkische Realität berücksichtigt: hier hängt das Phänomen sehr eng mit der Kontrolle der Frau zusammen. Denn unter den verschiedenen möglichen Übersetzungen ins Türkische des Begriffs Ehre findet sich der Begriff Namus, der sich auf die Reinheit und die weibliche Sexualität bezieht. Wir müssen aber berücksichtigen, dass die Opfer in verschiedenen Kontexten, wenn auch in der Minderheit, Männer sind, die ermordet werden, weil sie ehebrecherische Liebhaber sind oder in anderen Fällen, in denen die Beweggründe des Verbrechens mit Verhaltensweisen in Verbindung gebracht werden können, die nicht mit dem Sexualleben zusammenhängen, ihr Leben verlieren.
Milena Rampoldi: In Ihrer Arbeit vergleichen Sie Aspekte des italienischen und türkischen Gesetzes. Welche sind die ähnlichen Aspekte und welche die Hauptunterschiede?
Stefania Arru: In der Vergangenheit kamen sich die beiden Rechtsysteme im Bereich der Ehrenmorde sehr ähnlich. In beiden Ländern wirkte sich die Ehre als „Rechtfertigung“ als mildernder Umstand auf das Strafmaß aus. Nun hat sich die Situation vollkommen verändert: in der Türkei gelten diese Morde, dank der Reformbewegung auf Initiative der EU und der türkischen Frauenbewegungen, als kulturell orientierte Vergehen, die eine Erhöhung des Strafmaßes begründen. In Italien gibt es hingegen seit 1981 keine Spur mehr von diesen Verbrechen. Denn in diesem Jahr wurden die betreffenden Vorschriften aufgehoben, da es zu zahlreichen öffentlichen Ereignissen gekommen war, die eine Reform erforderlich machten.
Milena Rampoldi: Der rechtliche Aspekt muss mit dem soziologischen, religiösen, ethnischen und kulturellen Aspekt verbunden werden. Welche Möglichkeiten sehen Sie in dieser Beziehung, um gegen diese brutale Praktik anzukämpfen?
Stefania Arru: Das Gesetz muss immer den Kontext berücksichtigen, in dem es Anwendung findet. Ich bin aber auch überzeugt, dass das Gesetz allein nicht in der Lage sein wird, die Anzahl der Ehrenmorde zu reduzieren, vor allem weil es sich um Verbrechen handelt, die auf die Tradition und Kultur eines Volkes zurückzuführen sind. Dennoch ist vor allem eine soziologische, kulturelle, religiöse Veränderung erforderlich, die auch vom Rechtsprecher selbst ausgehen kann, indem dieser beispielsweise Reform- und fortschrittliche politische Richtlinien einleitet.
Milena Rampoldi: Welche sind in Italien und in der Türkei die Hauptrechtfertigungen für den Ehrenmord?
Stefania Arru: Die Begründungen der Verbrechen sind in beiden Ländern im Wesentlichen dieselben; sie sind auf die patriarchalische Gesellschaft zurückzuführen, in denen sich die Verbrechen abspielen. Es handelt sich um Gemeinschaften, in denen das Individuum dazu verpflichtet ist, kulturelle Regeln zu befolgen, die von Generation auf Generation weitergegeben werden. Gegen diese Regeln zu verstoßen bedeutet die Familie und die Traditionen nicht zu respektieren und somit ein Leben lang mit einer Schande befleckt zu sein.
Milena Rampoldi: Was haben die beiden Länder bereits verbessert und was muss dringend gemacht werden?
Stefania Arru: Wenn man das türkische Strafgesetzbuch analysiert, muss man anerkennen, dass die türkische Regierung einen Schritt nach Vorne gemacht hat, indem sie eine durchdachte Norm eingeführt hat, die sich auf die Morde mit einem erschwerenden kulturellen Motiv beziehen. Nun ist es aber erforderlich, eine weitere Vorschrift zu erlassen, die den Begriff der Ehre definiert und den Richtern im Rahmen der Strafverfahren keine Auslegungsfreiheit einräumt. Ein ähnlicher Diskurs gilt auch für Italien. Die Aufhebung der Vorschriften, die die Ehrenmorde begründen, hat zu einer Verminderung der Anzahl der Verbrechen geführt. Aber im Moment gibt es keine Gesetzesnorm, die diese Fälle regelt. Alles wird verschiedenen juristischen Orientierungen überlassen. Auch hier braucht es ein eigenes Gesetz rund um die Verbrechen, die auf einen „kulturellen Faktor“ zurückzuführen sind.

 

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