Gedenken Al Dschazira berichtet über arabische Nazi-Opfer
Der Fernsehsender Al Dschazira berichtet über arabische Nazi-Opfer. Für die Zuschauer des Senders kommt diese Recherche einem Tabubruch gleich.
06.01.2003, von Souad Mekhennet
Der Häftling ist abgemagert bis auf die Knochen. Aus seinen dunklen, starren Augen blickt die Hoffnungslosigkeit, seine Lippen sind zusammengepresst. Der Mann starb in einem Konzentrationslager während der Nazi-Zeit, er war Araber. Seinem Aussehen nach könnte er aus Algerien, Marokko oder Tunesien stammen. So genau weiß das niemand.
Das Bild des unbekannten arabischen Nazi-Opfers ist an diesem Freitag zum ersten Mal in der Sendung “Korrespondenten von Al Dschazira” bei dem gleichnamigen Sender ausgestrahlt worden. Der Film wird an diesem Montag wiederholt. Im Zentrum des Beitrags von Aktham Suliman, dem Deutschland-Korrespondenten des Senders, stehen die arabischen Häftlinge der Konzentrationslager der Nazis. Eine Gruppe mithin, über die sich die Geschichtsbücher gemeinhin ausschweigen. Das will Al Dschazira offenbar ändern.
Die Stimme des Moderators, der den Beitrag vorstellt, klingt verbittert und wütend. Es ist, als ob er eine Anklage verlese: “Warum wusste von uns keiner, dass es arabische Opfer der Nazis gab?” Weshalb werde dieser Opfer nicht gedacht? Und weshalb – da bedient der Journalist sogleich eines der beliebtesten antijüdischen Vorurteile – setze man sie nicht auch politisch ein, so wie es Israel tue. “Warum wussten wir es nicht?”
Diese Frage also steht am Beginn der Reportage. Sie beginnt mit dem Blick auf den Eingang des Lagers Sachsenhausen heute. Auf dem Gelände streifen Besucher umher. Der Film zeigt die Baracken, die Schlafstätten der Gefangenen. “Die Geschichte”, sagt Aktham Suliman, “überfährt jeden, der sie ignoriert.” Damit redet er seinen arabischen Zuschauern ins Gewissen, die sich bisher kaum mit der Geschichte des Faschismus in Europa befasst haben. Hierher, in dieses ehemalige KZ, kämen Besucher aus aller Welt, nur keine Araber. Nach der Logik der Geschichte aber seien nur jene Opfer, deren Namen und deren Länder in den Gedenkstätten verzeichnet seien. “Aber was ist mit denjenigen, deren Namen nicht genannt werden?” fragt Suliman. Er führt ein Interview mit Gerhard Höpp vom Zentrum Moderner Orient in Berlin. Höpp untersuche, wie viele Araber den Nazis zum Opfer fielen. Keine einfache Suche. Im Gegensatz zu den jüdischen Häftlingen gebe es von den arabischen Häftlingen keine Memoiren und Biographien. Deswegen blieben als Quellen nur die Archive der Täter.
Die Kamera zeigt eine Liste, auf der arabische Namen stehen: “Mohammed ben Mustafa, Mohammed ben Brick.” 350 Namen arabischer Häftlinge konnten vom Zentrum Moderner Orient bisher ermittelt werden, geschätzt wird die Gesamtzahl auf mehr als tausend. Etwa 40 000 bis 60 000 arabische Zwangsarbeiter soll es gegeben haben. Sie seien aus politischen oder rassistischen Gründen verhaftet worden oder waren Kriegsgefangene. Einer von ihnen war Mohammed Boujad. Der Gefangene mit der Nummer 41 506 sei am 1. März 1904 in Rabat, Marokko geboren worden. Von Beruf war er Kaufmann, ihm wurde die Teilnahme am französischen Widerstand vorgeworfen. “Tod am 24. April 1945 in der Gaskammer im Lager Mauthausen.” Suliman liest aus Lagerdokumenten vor, die von der Kamera gezeigt werden. Und da hat der arabische Zuschauer es im beliebtesten Nachrichtensender der arabischen Welt schwarz auf weiß, was in unseren Breiten nur hartnäckige Holocaust-Leugner ignorieren: Es hat Gaskammern in der Nazi-Zeit gegeben, und dort wurden auch Araber umgebracht. Suliman zählt die anderen Lager auf, in denen Araber ums Leben kamen, darunter: Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau. Das sind Ortsnamen, die viele in der arabischen Welt zum ersten Mal hören.
Mit seinem Film, sagt Suliman, wolle er “versuchen, diese Vergessenen lebendig zu machen.” Die arabischen Opfer der Nazis seien gleichsam “zweimal gestorben”: einmal physisch, als sie vernichtet wurden, und dann, weil ihrer nicht gedacht werde. Die Nazi-Zeit, fährt er fort, werde in der arabischen Welt nur selten thematisiert, weil das Vorurteil herrsche, Israel instrumentalisiere den Holocaust bis heute, um die Rechte der Palästinenser zu unterdrücken. Genau jenes Vorurteil aber muss Suliman offenbar selbst bedienen, wenn er in seinem Film eine Episode erwähnt, bei der ein israelischer Diplomat beim Besuch der Gedenkstätte Mittelbau Dora verlangt habe, die arabischen Herkunftsorte von Opfern, die auf einer Hinweistafel verzeichnet worden waren, zu entfernen. “Es passte ihm nicht, dass die Monopolisierung der Opferrolle gebrochen wurde”, meint Suliman. Auch er, wie der Moderator, der seinen Beitrag ansagt, können also selbst bei einem Thema, das mit Blick auf die eigene Historie und aktuelle politische Lage so brisant wie bedeutsam ist, auf die übliche anti-israelische Polemik nicht verzichten.
Bei seinem Schlusswort, in dem er mahnt, das Menschheitsverbrechen nicht zu vergessen, schließt Suliman die Millionen jüdischer Opfer der Nazis glücklicherweise an erster Stelle wieder ein. “Bisher hat kein arabischer Machthaber die Gedenkstätten offiziell besucht”, sagt Suliman im Gespräch mit dieser Zeitung. Doch hoffe er, “dass sich das schon bald ändert”. Hätte es im Anschluss an seine Sendung eine Diskussion mit entsprechenden Gästen gegeben, wäre sogleich ersichtlich geworden, wie weit eine solche Provokation reicht, als welche die Thematisierung des Holocaust in Europa heute natürlich nicht wahrgenommen wird, auch wenn bei uns die arabischen Opfer kaum erwähnt werden. Ein mutiger Anfang war es, gerade in den Tagen, da alle den zweiten Irak-Krieg erwarten, ohne jeden Zweifel.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.01.2003, Nr. 4 / Seite 34
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