Von Milena Rampoldi, ProMosaik. Anbei mein Interview mit Denise Nanni, die 2014 an der Fakultät für Politikwissenschaften, Soziologie und Kommunikation in Rom eine BA-Arbeit zum Thema der weiblichen Empowerment-Politik in der muslimischen Welt verfasste. Die Arbeit fokussiert auf den Studienfall Türkei. Denise lebt nun in Istanbul und setzt dort ihre Arbeit zum Thema des Feminismus und der Frauenrechte in der Türkei fort. Vor kurzem haben wirihren Artikel über die Organisation WWHR veröffentlicht, eine NRO, die 1993 in Istanbul gegründet wurde und seit ihrer Gründung auf nationaler und internationaler Ebene tätig ist, um eine globale Anerkennung der Frauenrechte anzustreben.
Milena Rampoldi: Was bedeutet für Sie weibliches Empowerment?
Denise Nanni: Für mich bedeutet Empowerment, nicht nur im Sinne des weiblichen Empowerments, vor allem die Bewusstseinsbildung, Teil einer benachteiligen, gesellschaftlichen Gruppe zu sein. Es bedeutet das Bewusstsein der Tatsache, dass allein die Zugehörigkeit zu einer Minderheit die eigene Existenz, die eigenen Möglichkeiten und die eigenen Lebensentscheidungen bestimmen kann. Nur nach diesem Bewusstsein ist es möglich zu handeln und Instrumente umzusetzen, um die eigene Situation zu verändern. Daher vertrete ich die Ansicht, dass weibliches Empowerment vor allem ein innerer Prozess ist, der Reflexionsarbeit erfordert und in dem man sich fragen muss, wer wir als Frauen sind, aber vor allem wer wir als Menschen ist. Wir müssen uns fragen, wie viel von unseren Wegen von der dominanten Kultur stammt, die in jeder Gesellschaft auf mehr oder weniger offensichtliche Weise eine Identität und sozial akzeptierte und vorgefertigte Verhaltensmodelle aufdrängt. Nach dem Verständnis dessen ist es möglich, sein eigenes Leben zu ändern. Denn mein eigenes Leben kann ich anders gestalten als es meine Herkunftskultur macht. Ich kann auch ein Beispiel der Änderung, die ich vorschlagen möchte, aufzeigen.
Milena Rampoldi: Was unterscheidet deiner Meinung nach den westlichen vom muslimischen Feminismus und welche sind die ähnlichen Aspekte?
Denise Nanni: Der ähnliche Aspekt ist meiner Meinung nach das Endziel beider Feminismen, der darin besteht, die Lebensbedingungen der Frauen vor Ort und global zu verbessern. Der Unterschied besteht in den Modalitäten, nach denen man versucht, dieses Ziel zu erreichen. Der moderne westliche Feminismus widersetzt sich jeglichem Aspekt der dominanten Kultur und wirft dieser vor, ein Produkt der patriarchalischen Gesellschaft zu sein. Meiner Meinung nach sind die Aktionen des westlichen Feminismus unseres Zeitalters oft nur Provokationen, die Aufmerksamkeit erregen wollen, aber am Ende vom Kernthema ablenken. Der muslimische Feminismus ist hingegen das Produkt einer Gesellschaft, in der Religion und Tradition noch eine sehr wichtige Rolle im Leben der Menschen spielen, deren Identität durch diese Sitten und Bräuche modelliert wird. Somit ist eine vollständige Auflehnung gegen die Religion unmöglich, da es schwierig ist, sich von einer Gesamtheit von Prinzipien und Traditionen zu trennen, die zum eigenen Alltag gehören. Daher versuchen die muslimischen Feministinnen ihre Rolle als Frau in der eigenen Gesellschaft neu zu definieren, ohne dabei auf die Religion zu verzichten.
Dies führte zu verschiedenen Polemiken zwischen den Faktionen: denn der westliche Feminismus fühlt sich auf irgendwelche Weise überlegen, weil er nicht glaubt, dass eine Frau mit Kopftuch eine Feministin sein kann, da sie sich etwas von den Männern eintrichtern lässt. Was mir aber offensichtlich erscheint, ist, dass man mit diesem Wortlaut gegen das grundlegende Selbstbestimmungsrecht verstößt, das jedem zusteht. Des Weiteren schafft man Streitpunkte in einem Bereich, in dem es hingegen der Einheit und Zusammenarbeit bedarf.
Milena Rampoldi: Erzählen Sie uns von den historischen Etappen des osmanisch-türkischen Feminismus.
Denise Nanni: Die ersten Veränderungen der Situation der Frauen gehen auf die Osmanenzeit zurück. Zu jener Zeit befand sich das Reich in einer schwierigen Zeit, musste sich gegen externe Feinde und interne nationalistische Bewegungen wehren, die die Einheit des Reiches aufs Spiel setzten. Daher beschloss Sultan Mahmud II die Integration der Völker innerhalb des Reiches und leitete somit einen Modernisierungsprozess ein. Die Unterdrückung der Frauen galt als Modernisierungshindernis. Daher wurden Reformen in die Wege geleitet, um den Frauen zu ihren Erb- und Bildungsrechten zu verhelfen. Die Frauen begannen sich zu organisieren, über ihre Lage zu sprechen. Es wurden verschiedene Zeitschriften zum Thema veröffentlicht. Dieser Feminismus war sozusagen institutionell, von Oben aufgezwungen, was bedeutete, dass nur Frauen der wohlhabenden sozialen Schichten in der Lage waren, die ihnen zuerkannten Rechte auch tatsächlich auszuüben.
Mit der Gründung der türkischen Republik kam es zu neuen Reformwellen. Der erste türkische Präsident Atatürk sah in der weiblichen Emanzipation eine grundlegende Voraussetzung für das Überleben des Landes. Dieser kemalistische Feminismus basierte auf dem Kernmythos der Existenz einer Vergangenheit vor der Konvertierung zum Islam, in der es die Gleichheit der Geschlechter gab. Atatürk leitete Reformen ein, um die Erziehung und Beschäftigung der Frauen zu fördern und gewährte ihnen das Wahlrecht. Dennoch war auch dieser Feminismus ein Staatsfeminismus von oben, der in seinen Grenzen verblieb.
In den siebziger und achtziger Jahren spielten verschiedene Soziologinnen eine wesentliche Rolle in der Bewusstseinsbildung bezüglich der fehlenden Umsetzung der verabschiedeten Gesetze vor allem auf dem Lande, wo zu jener Zeit die Mehrheit der Bevölkerung lebte. Nach dem Putsch von 1980 wurden alle Parteien und politischen Organisationen verboten. Paradoxerweise kommt gerade in diesem Zeitraum eine neue Welle des Feminismus auf. Şirin Tekeli (feministische Aktivistin und Autorin) zufolge war dies weder ein Zufall noch ein Paradoxon: der Kemalismus und die linken Ideologien hatten bis dahin ein Hindernis dargestellt. Somit erhielten die Frauen nach dem Verbot der Parteien und der Flucht, Verhaftung oder Ermordung zahlreicher politischer Führer einen neuen Raum, um ihre Stimme hörbar zu machen. Dieser Feminismus gilt als der erste Feminismus, der vollständig von Frauen geleitet wurde. Es entstanden Sensibilisierungsgruppen, Zeitschriften und Organisationen zwecks Schaffung eines gemeinsamen feministischen Bewusstseins. Was diesen Feminismus im Besonderen charakterisiert, waren die Institutionalisierungsversuche: es wurden Forschungszentren über weibliche Fragen gegründet. In diese Zeit fällt auch die Gründung des ersten Frauenhauses für die Aufnahme von Opfern häuslicher Gewalt 1990 in Istanbul (Mor Cati); im selben Jahr wurde die Organisation Kadın eserleri kütüphanesi ve bilgi merkezi vakfı (Bibliothek und Informationszentrum für Frauen) gegründet. 1991 wurde das Ministerium für Frauenangelegenheiten gegründet. Im Jahre 1993 wurde Women for women’s human rights, eine wichtige unabhängige NRO, gegründet. In den neunziger Jahren wurden viele Gesetze, die gegen die Gleichberechtigung verstießen, geändert. 2002 reformierte das türkische Parlament das Zivilgesetzbuch, um eine größere Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu erzielen. In dieser Zeit kam es in der Türkei auch zu einer wichtigen Debatte, die bis heute offen ist: ist es möglich muslimisch und gleichzeitig feministisch zu sein?
Heute engagiert sich nicht nur der Staat für eine zunehmende Gleichheit und mehr weibliches Empowerment. Seit den siebziger Jahren ist die Rolle der NRO leicht gestiegen. Einige dieser NRO sind so renommiert, dass sie sogar von der Weltbank zu Rate gezogen werden und Vertreter in der Konferenz der Vereinten Nationen haben. Seit den neunziger Jahren engagieren sich die NRO in der Politik für die Frauen in der Türkei. Im Rahmen dieser Tendenz begannen die Frauen auch, immer aktiver an den Entwicklungsprogrammen teilzunehmen. Die weiblichen Empowerment-Tätigkeiten schließen Folgendes ein: Erbringung von Dienstleistungen zwecks Erhöhung der weiblichen Alphabetisierungsquote, medizinische Informationen und Aufklärung über die Familienplanung, Entwicklung weiblicher Kompetenzen und Fähigkeiten zwecks zunehmender weiblicher Teilnahme am Arbeitsleben, Eröffnung von Frauenhäusern und rechtlicher Beistand. Verschiedene internationale Organisationen arbeiten mit und stellen den türkischen NRO Finanzmittel zur Verfügung: die Weltbank, die Vereinten Nationen, UNDP und UNFPA. Diese arbeiten gemäß dem Paradigma del Bottom-Up-Politics und der Entwicklung von Unten. Daher ziehen sie immer die Kooperation mit den NRO und der Zivilgesellschaft vor, die oft besser als die großen Organisationen in der Lage sind, Druck auf die Politik auszuüben. Eine der wesentlichsten Veränderungen war nach 2000 die Reform des Strafgesetzbuches von 2004.
Milena Rampoldi: Wie kann man sich auf den Islam und den Koran berufen, um die Situation der Frauen in der Türkei zu verbesern?
Denise Nanni: Meiner Meinung nach ist eine alternative Auslegung des Korans nicht die beste Strategie, um die Frauenrechte in der Türkei oder in jeglichem anderen muslimischen Land zu fördern. Man muss sich eher auf den Hausverstand berufen. Man kann nicht jemanden davon überzeugen, dass eine Handlung gegen die Menschenrechte verstößt, indem man Koranverse oder andere religiöse Quellen zitiert. Denn diese stammen aus anderen historischen Zeitaltern und sind deren Produkt. Um ein Beispiel anzuführen: der Koranvers, in dem man dem Mann erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten, ist das Ergebnis eines Zeitalters, in dem Witwen nicht alleine überleben konnten und unter der negativen Stigmatisierung von Seiten der Gesellschaft litten. Dieser Koranvers wurde auch verwendet, um die heutige Mehrehe zu rechtfertigen. Es handelt sich um eine soziale Gepflogenheit, die zu seiner Zeit angemessen war, heute aber ungerecht ist. Man muss sich engagieren, um Menschen in die Lage zu versetzen, selbständig zu denken. Wenn man auch eine alternative Auslegung des Korans präsentiert und wenn man auch davon ausgeht, dass diese global akzeptiert würde, würde man das Problem, aber nicht seine Ursache aus der Welt schaffen. Und diese Ursache ist meiner Meinung nach darauf zurückzuführen, dass Menschen nicht in der Lage sind, sich von den Regeln jeglicher Art zu trennen, auch wenn sie offensichtlich falsch sind.
Milena Rampoldi: Berichten Sie uns von der Coalition for Social and Bodily Rights in Muslim Societies?
Denise Nanni: Im September 2001 fand in Istanbul der Kongress Women, Sexuality and Change in Middle East and Mediterrean, der die Vertreter von 19 NRO und Akademikern aus Algerien, Ägypten, Libanon, Marokko, Pakistan, Palästina, Syrien, Tunesien, der Türkei und Jemen zusammenbrachte. Es war der erste Kongress dieser Art, in dem sich Experten und Forscher zusammenfanden, die sich in ihrer Karriere mit den Formen der sexuellen Unterdrückung in ihren Ländern auseinandergesetzt hatten. Dieses Treffen führte zur Gründung derCoalition for Sexual and Bodily Rights in Muslim Societies (CSBR), die sich als ein internationales Netzwerk der Solidarität sieht, das das Ziel verfolgt, die sexuellen, körperlichen und reproduktiven Rechte als Menschenrechte in den muslimischen Gesellschaften zu fördern. Im Jahre 2004 wurde die CSBR auf Organisationen und Akademiker aus Südostasien erweitert. Die CSBR verfolgt einen inklusiven Ansatz im Bereich der Sexualität und erkennt der Sexualität eine zentrale Rolle im privaten, öffentlichen und politischen Leben zu. Sie spielte außerdem eine wichtige Rolle in der Festlegung und Ausweitung des Begriffs der sexuellen Rechte, die bis dahin nicht existierten, und in der Enttabuisierung der Rechte der Homosexuellen. Die CSBR hält es zwecks Erreichung der Gleichheit zwischen den Geschlechtern, der sozialen Gerechtigkeit und der Demokratisierung für notwendig, die Rechtssysteme zu überarbeiten und zu stärken, Programme und Politiken anzuwenden und umzusetzen, die auf den Bildungs- und Gesundheitsrechten basieren, die Finanzierungen von Programmen und Institutionen zu erhöhen, die sich für die Gleichheit der Geschlechter einsetzen, politische Richtlinien und Programme einzuleiten, die die Feminisierung der Armut und von HIV/AIDS aus der Welt schaffen. Die Tätigkeit des CSBR besteht vor allem in Sensibilisierungs- und Informationskampagnen.
Milena Rampoldi: Welche sind Ihrer Meinung nach die besten Strategien zwecks Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen in Ländern wie der Türkei?
Denise Nanni: Die beste Strategie ist meiner Meinung nach nur eine: Erziehung. Die Erziehung, der Austausch und der Kontakt mit verschiedenen Lebensrealitäten sind die einzigen Wege, um den Menschen wirklich die Augen zu öffnen und die neuen Generationen in die Lage zu versetzen, zu verstehen, dass ihre Realität und ihre Lebensweise nicht die einzig möglichen sind und dass die Verhaltensmodelle, die sie in der Familie gelernt haben, nicht immer richtig sind. Die Veränderung kann nicht durch Gesetze aufgezwungen werden, sondern muss von einer Veränderung von Unten begleitet werden.
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