Antirassistisches Netzwerk Sachsen-Anhalt: „Dem rassistischen Normalzustand eine andere gesellschaftliche Utopie entgegensetzen“
von Milena Rampoldi, ProMosaik. Im Folgenden mein Interview mit einem Aktivisten des Antirassistischen Netzwerks Sachsen-Anhalt zum Thema Rassismus und Rassismusbekämpfung. Es geht für die Organisation darum, dem rassistischen Notstand in Deutschland eine Utopie einer nicht-rassistischen Gesellschaft gegenüberzustellen und sich dafür aktiv einzusetzen. In Deutschland brauchen wir Solidarität und keine Integration!
Milena Rampoldi: Welche sind die Hauptziele des Antirassistischen Netzwerkes Sachsen-Anhalt?
Antirassistisches Netzwerk Sachsen-Anhalt: Das Antirassistische Netzwerk Sachsen-Anhalt ist ein aus Gruppen und Einzelpersonen bestehendes Netzwerk, das sich Sachsen-Anhalt-weit im Kontext antirassistischer Politik engagiert. Wir sehen es als unsere Aufgabe,Geflüchtete in ihren Kämpfen um Menschenrechte zu unterstützen und die Selbstorganisierung voranzutreiben. Dabei wenden wir uns gegen die deutsche Asyl- und Abschiebepraxis und leisten Öffentlichkeitsarbeit, um sowohl die Zustände in den Lagern, als auch die Willkür, Schikanen und Demütigungen seitens der Behörden gegenüberGeflüchteten aufzuzeigen. Nicht zuletzt geht es uns darum, Rassismus in seinen verschiedenen Formen zu skandalisieren und dem “rassistischen Normalzustand” eine andere gesellschaftliche Utopie entgegenzusetzen. Wir organisieren uns zusammen mit anderen Gruppen, wenn fremdenfeindliche Übergriffe oder Anschläge stattfinden, aber auch im Kontext rassistisch geführter gesellschaftlicher Debatten wie im Fall von Pegida und AFD. Die aktuelle politische Lage rückt die Notwendigkeit von Selbstorganisierung und Selbstschutz zunehmend in den Vordergrund.
Was bedeutet für Sie der Grundsatz Solidarität anstatt Integration?
Die sich verschärfende gesellschaftliche Debatte um die sogenannte “Integration” macht deutlich, dass sich dahinter konservative und nationalistische Konzepte verbergen, die nach wie vor von einem “deutschen Volkskörper” bzw. einer “deutschen Leitkultur” ausgehen, an die sich alle Migrant*innen anzupassen haben. Dem gegenüber steht jedoch die Freiheit und Souveränität des Einzelnen. Geflüchtete in Deutschland können sich kaum mehr auf Grundrechte berufen. Wir fragen: Welchen Sinn macht Integration ohne eine langfristige Bleibeperspektive? Wie soll ein Leben in Deutschland gestaltet werden, wenn mensch in Lagern leben muss, ohne Aussicht auf Arbeit, soziale Anbindung und Bewegungsfreiheit? Wie sollen Grundrechte allgemein akzeptiert werden, wenn mensch von eben diesen ausgeschlossen wird? Wir prangern diese Doppelbödigkeit, mit der einerseits der Zwang zur Assimiliation zum Ausdruck gebracht und andererseits eine systematische Entrechtung vorangetrieben wird, innerhalb unserer politischen Arbeit an. Wenn überhaupt von Integration die Rede sein kann, so ist dies kein einseitiger Prozess, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe unter den Prämissen von Freiheit und Gleichberechtigung. Es bedarf also umso mehr den Prozess der Selbstorganisierung und Momente praktischer Solidarität, um Geflüchteten Möglichkeiten zu schaffen, über ihr eigenes Leben selbst zu verfügen.
Mit welchen Hauptproblemen haben Sie in Ihrem Bundesland zu kämpfen, wenn es um Rassismus und Fremdenhass geht?
Mit dem Aufkommen von Pegida und seinen lokalen Ablegern hat sich die Debatte um Migrant*innen soweit aufgeladen, dass dies seinen Ausdruck in fast täglich stattfindenden rassistischen Angriffen und Anschlägen findet. Im Jahr 2015 kam es zu 1005 Attacken auf Unterkünfte für Geflüchtete. Für das Jahr 2016 ist diese Zahl schon jetzt fast erreicht. Auch in Sachsen-Anhalt gehört fremdenfeindliche Gewalt zum traurigen Alltag. So kam es vor kurzem in Magdeburg zu einem Brandanschlag auf ein Solarium, welches von einem syrischen Mitbürger betrieben wird. An die Tür hatte man ein Hakenkreuz und das Wort “raus” hingemalt. In Burg wurde ein Haus in Brand gesteckt, in dem eine migrantische Familie lebt. In Nauen brannte eine noch leerstehende Flüchtlingsunterkunft ab, ebenso wie in Oschersleben. In Köthen wurde eine Filmvorführung mit antirassistischem Inhalt von Nazis gestürmt. In Halle wurde ein 24-jähriger durch einen Nazi-Angriff schwer verletzt. Und in Merseburg stürmten Nazis die Wohnung einer afrikanischen Familie. Im Herbst 2015 gründeten sich in Magdeburg sogenannte Bürgerwehren. Im Zuge dessen wurde Büros und Wohnungen von Politiker*innen und Aktivist*innen angegriffen. Neben den massiven rassistischen Gewalttaten hat sich auch die Zahl der fremdenfeindlichen Demonstrationen drastisch erhöht. Während in Magdeburg lange Zeit die Gruppe “Magida” ihr Unwesen trieb, terrorisierte in Halle die rechtsextreme Gruppe “Brigade Halle” die Anwohner*innen in der Silberhöhe. Regelmäßig finden Aufmärsche von AFD, Hogesa, Die Rechte oder einem kruden Zusammenschluss von Reichsbürger*innen statt. Auf all diese Attacken und Aufmärsche versuchen linke Gruppen und auch das Antirassistische Netzwerk zu reagieren, indem Betroffene unterstützt und Demonstrationen organisiert werden.
Eine andere Problemlage, auf die wir zu reagieren versuchen, ist der strukturelle Rassismus, also staatliche Instrumente, die sich gegen die Rechte von migrantischen Mitbürger*innen wenden. Das heisst für uns zum Beispiel, Abschiebungen in jedweder Hinsicht aufzuhalten. Dies zeigt sich zum einen in der recht intensiven Einzelfallbetreuung (Anwälte organisieren, Behördengänge, Spendengeld besorgen, etc.) und zum anderen in der Unterstützung von Aktionen, die Abschiebungen direkt zu verhindern versuchen. Auch hier zeigte sich in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme der Abschiebezahlen, aber auch eine Verschärfung staatlicher Mittel, um diese Abschiebungen durchzusetzen. Während im Jahr 2015 Abschiebungen zum Teil erfolgreich verhindert werden konnten, hat sich 2016 die Gesetzeslage derart verändert, dass für die meisten Menschen kaum eine andere Wahl als die Illegalität bleibt, wenn sie ihre Abschiebung umgehen wollen.
Ein dritter Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Auseinandersetzung mit eben jenen Gesetzesveränderungen bzw. Asylrechtsverschärfungen. Konnten wir im Jahr 2015 noch eine bundesweite Kampagne dazu organisieren, lassen sich im Jahr 2016 die Asylrechtsverschärfungen kaum noch zählen, geschweige denn einer Öffentlichkeit vermitteln. Dennoch ist es für uns wichtig, sich mit den rechtlichen Formalitäten der Asyl- und Abschiebepraxis von Deutschland zu beschäftigen. Schließlich ist eine Klage gegen dieDublin Gesetzgebung oftmals die einzige Chance für Geflüchtete, um einer Bleibeperspektive doch noch etwas näher zu kommen.
Welche Hauptinitiativen führen Sie durch?
Unsere Schwerpunkte wurden bereits genannt, dazu kommen etliche Aktionen, um die Selbstorganisierung von Geflüchteten zu unterstützen. So stehen wir im engen Austausch mit Women in Exile, der Gruppe Refugee Movement Bustour, der Oury-Jalloh-Initiative und afrique-europe-interact. Zudem führen wir die Erstinfoveranstaltung für Ankömmlinge in der Zentralen Aufnahmestelle in Halberstadt durch, organisieren Infoveranstaltungen zu aktuellen Themen und Gesetzesveränderungen, veranstalten Buchlesungen, Filmvorführungen und Solipartys. Wir arbeiten oft in größeren Netzwerken mit anderen Gruppen zusammen. Zum Beispiel unterstützen wir Gruppen, die nach Griechenland fahren, um dort Geflüchteten zu helfen, oder Gruppen, die sich gegen Abschiebungen am Flughafen einsetzen. Nicht zuletzt widmen wir uns auch dem Kampf gegen die Fluchtursachen, in unserem Falle heisst das, dass wir das jährliche war-starts-here-Camp in der Colbitz-Letzlinger-Heide aktiv unterstützen.
Wie wichtig sind Demos, um die Gesellschaft aufzurütteln?
Demonstrationen sind oftmals eine Reaktion auf etwas, das bereits passiert ist. Die Frage ist, in welchem Kontext und zu welchem Zweck sie organisiert werden. Auf jeden Fall sind sie kein Allheilmittel und für uns auch nicht immer das erste Mittel, um in die politische Auseinandersetzung zu treten. Sie können ein Ausdruck der Empörung, der Wut oder der Trauer sein. Dafür sollten sie aber in eine Kampagne eingebunden sein und nicht ausschließlich zum Selbstzweck degradiert werden.
Wie wichtig sind Aktionen mit jungen Menschen, um den Rechtsradikalismus zu bekämpfen?
Im Zuge der Kampagne zur Asylrechtsverschärfung 2015, aber auch rund um die Aktionen zur Verhinderung von Abschiebungen haben sich viele junge Menschen politisiert und sind nun selbst Aktive in selbstorganisierten Zusammenhängen. Das freut uns sehr und gibt uns auch Inspiration und Kraft. Was uns jedoch immer wieder auffällt ist, wie exkludierend die eigene Szene ist. Unsere Sprache und unser Habitus wirken zum Teil befremdlich und selektiv. Wer den Szenecode nicht kennt, hat es oftmals schwer, sich in linken Zusammenhängen einzubringen. Es ist an uns, die eigenen Ideologien nicht zum Dogmatismus verkommen zu lassen, offen zu bleiben und Potentiale wertschätzend anzunehmen.
Was haben Sie schon erreicht und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Welche “Erfolgskriterien” kann mensch in der politischen Arbeit anwenden? Wenn wir uns die gesellschaftliche Entwicklung ansehen, müssten wir uns schamvoll abwenden in der Erkenntnis, nichts erreicht zu haben. Schlimmer noch: wir sind so schwach wie nie zuvor! Schauen wir aber auf eine Familie aus dem Kosovo, die es durch unsere lange und beharrliche Arbeit geschafft hat, nun ein Bleiberecht in Deutschland zu bekommen, könnten wir uns etwas freuen, dem scheiss Staat doch noch ein Schnippchen geschlagen zu haben. Es ist eine Frage der Perspektive. Was uns aber immer wieder klar geworden ist, trotz all unserer Bemühungen schaffen wir es eben nicht allein, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Dafür braucht es eine soziale und politische Bewegung, die sich grundsätzliche Fragen zu den Hauptwidersprüchen dieser Zeit stellt. Ist das die Gesellschaft, in der wir leben wollen? Und ja, dann geht es um den Kapitalismus (Rassismus und Sexismus?)!
https://promosaik.blogspot.it/2016/12/antirassistisches-netzwerk-sachsen.html