Martina Lauer: eine deutsche Aktivistin für Pälastina in Kanada
Martina Lauer
Von Milena Rampoldi, ProMosaik. – Anbei mein Interview mit der pro-palästinensischen Aktivistin und Übersetzerin Martina Lauer. Martina Lauer wurde 1960 in Süddeutschland geboren und lebt seit 20 Jahren in Kanada. Sie studierte Deutsch und Geschichte an der Universität Freiburg und arbeitete als Lehrerin und Lektorin in Deutschland, England und Peru. Seit dem israelischen Angriff auf Gaza 2008/2209 wurde sie in der pro-palästinensischen Bewegung aktiv. Sie schrieb für die Webseite Itisapartheid. Org, jetzt Adsfor Apartheid und übersetzt Berichte und Texte zum friedlichen Widerstand in Palästina für Pro Mosaik und das Palästina Portal. Ich möchte mich herzlichst bei Frau Lauer für ihre so ausführlichen und wichtigen Antworten auf unsere Fragen bedanken. Ich hoffe, dass durch ihre Worte viele Leserinnen und Leser verstehen werden, wie wichtig ein aktives und kreatives Engagement für Palästina wichtig sind. Jeder kann und soll sich für Palästina und die Menschenrechte engagieren. Israelkritik und Antizionismus bedeuten in diesem Sinne ganz klar eine Positionierung für die Menschenrechte und an der Seite unterdrückter und kolonisierter Völker.
Milena Rampoldi: Wie wichtig ist der Einsatz für Palästina im Westen?
Martina Lauer: Die Verteidiger Israels werfen den Aktivisten in der pro-palästinensischen Welt oft vor, dass sie wichtige Weltereignisse und schwere Menschenrechtsverletzungen anderswo ignorieren. Warum nicht Tibet oder Kaschmir oder Syrien? Zum einen sprechen unsere Regierungen von der Seelenverwandtschaft mit Israel und dem Vorbildcharakter der israelischen Demokratie. Zum anderen wird eine historische Verantwortung zum Schutz und zur Erhaltung des jüdischen Staates beschworen. Aus Washington, der Kommandozentrale der westlichen Welt, werden jährlich mehr als drei Milliarden Dollar nach Israel verschickt und die Verhandlungen über eine Erhöhung des Betrages geführt.
Wir messen unsere Regierungen aus gutem Grund am Verhalten zu Israel:
In Deutschland sprechen die Politiker davon, dass die historische Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson ist.
MR: Was bedeuten für Sie persönlich Zionismus und Antizionismus?
ML: Der Zionismus ging davon aus, dass Juden ein Fremdkörper in ihrem jeweiligen Herkunftsland waren und eine eigene Nation oder sogar Rasse bildeten. Für zionistische Juden gab und gibt es nur einen Ausweg aus dieser anomalen Situation, die Errichtung und Erhaltung eines jüdischen Staates. Mit dem Beginn der Einwanderung von europäischen Juden nach Palästina erhob die zionistische Bewegung den exklusiven Anspruch auf einen Staat in Palästina. Die Rechte der Palästinenser auf einen Staat in ihrem Heimatland wurden von den Zionisten als relativ angesehen, relativ zu den Bedürfnissen der Einwanderer. Man konnte also von den Palästinensern erwarten, dass sie auf ihren Staat warten, bis die Zionisten ihre Ziele erreicht hatten. Zionisten waren Atheisten, sahen aber trotzdem in der Bibel eine historische Bestätigung und Rechtfertigung der jüdischen Präsenz in Palästina. Der neue Staat Israel hatte nach dieser Logik dann Wurzeln in der Region, die durch eine Auslegung der Bibel als Grund- und Geschichtsbuch belegt wurden. Die Ankunft der zionistischen Juden in Palästina war dann nicht so sehr ein Neubeginn, sondern eher eine Fortsetzung, ein Weiterbau von Fundamenten, die vor etwa zweitausend Jahren gelegt wurden. In Bezug auf die originale Bevölkerung erlaubte diese mystisch-nationalistische Geschichtsschreibung eine Rechtfertigung der Invasion und Landnahme. Was die Palästinenser politisch, kulturell und wirtschaftlich geschaffen hatten, wurde als minderwertig angesehen oder einfach ignoriert. Palästina war das Land ohne Volk, ohne eigene Kultur oder Gesellschaft. Der Zionismus erhebt auch den Anspruch, dass Juden in der ganzen Welt automatisch ein Teil der jüdischen Nation sind und eigentlich in Israel leben sollten. Kritiker des Zionismus haben auf die negativen Konsequenzen für die Juden in der Welt hingewiesen, wenn israelische Premierminister sagen, dass sie für alle Juden sprechen. Kann man dann nicht logischerweise alle Juden für die brutale rechtswidrige Politik Israels verantwortlich machen?
Ist Zionismus Rassismus? Wenn die Durchsetzung der Ziele des Zionismus auf Kosten einer anderen Bevölkerung gehen, dann ist Zionismus Rassismus. In Palästina können wir täglich sehen, dass die Grundrechte der Palästinenser verletzt werden, um das privilegierte Leben von jüdischen Israelis zu ermöglichen. Wie weit die Kritik am Zionismus geht, hängt davon ab, ob das zionistische Projekt von Anfang an als Kolonialismus zurückgewiesen wird.
Der religiös motivierte Antizionismus von orthodoxen Juden hat die Schaffung eines säkularen israelischen Staates schon immer zurückgewiesen haben. Bei unseren Demonstrationen in Ottawa zur Unterstützung von Gaza nehmen immer auch Mitglieder der Neturei Karta aus Montreal teil oder orthodoxe Rabbis aus New York, um ihre Solidarität mit den Palästinensern zu zeigen und klarzustellen, dass Juden nicht automatisch Zionisten sind.
Unter den pro-palästinensischen[DpMR1] Organisationen in Kanada wird ebenfalls debattiert, ob Israel in den Grenzen von 1967 ein legitimer Staat ist und lediglich eine Beendigung der Besatzung gefordert wird. Im Zuge der Aufarbeitung der kolonialen Geschichte Kanadas wird immer mehr der Standpunkt vertreten, dass Zionismus als Form des Kolonialismus nicht zu rechtfertigen ist. Während der Israeli Apartheid Week in Ottawa wird immer darauf hingewiesen, dass die Veranstaltung auf dem besetzten Territorium der Algonquin stattfindet. Vertreter der Palästinenser und der First Nations sprechen von den Folgen der Kolonialisierung, dem Angriff auf die Kultur, die indigene Wirtschaft und das politische Leben. Zionismus und der britisch-kanadische Kolonialismus zielten auf die Zerstörung der indigenen Gesellschaft und die Vertreibung der Bevölkerung auf kleine Landparzellen. Gegenwärtig sehen First Nations und Palästinenser ähnliche Formen der Diskriminierung und der Apartheidmaßnahmen: In Gaza und in den Reservaten im Norden gibt es kein sauberes Trinkwasser. Palästinensische und First Nations Kinder erhalten nicht die gleiche Schuldförderung wie die Kinder der dominierenden Gesellschaft. Kanada kann uns auch Hoffnung machen: Die Aufarbeitung der Geschichte des Kolonialismus, vor allem die verheerenden Maßnahmen in den “Residential Schools”, wo hunderttausende von Kindern der First Nations ihrer familiären, territorialen und kulturellen Wurzeln beraubt werden sollten (und viele verloren dabei ihr Leben), hat Zorn und Wut hervorgerufen, aber auch den konstruktiven Dialog. Idlenomore ist eine von First Nations Frauen begonnene Bewegung, die durch spontane Aktionen die Nachkömmlinge der Kolonialmacht und die Kolonisierten im Tanz und in Diskussionen zusammenbringt. In den Medien hören Kanadier nicht nur von weißen Experten über die Probleme der First Nations, sondern verstärkt von den Experten, die von den verschiedenen indigenen Nationen kommen. In den letzten Wahlen haben First Nations Politiker ihre Mitbewohner von Turtle Island (Kanada) aufgerufen, dass sie zur Wahl gehen, um einen Regierungswechsel herbeizubringen. Unter den First Nations gibt es Gruppen, die sich nicht am politischen Leben beteiligen wollen, weil Kanada ein Land ist, das als britische Kolonie begann und deshalb kein legitimer Staat ist. Trotzdem folgten viele First Nations dem Aufruf und schickten den konservativen Premierminister Harper nach Hause. Kanadas Beispiel zeigt meiner Meinung nach, dass die grundsätzliche Kritik am Kolonialismus den existierenden Staat nicht zerstört, wie die Verteidiger Israels das oft formulieren, sondern den Weg für einen echten Kompromiss und eine legitimere Regierungsform schaffen kann.
In Kanada wird von den Verteidigern Israels auch unterstellt, dass Antizionismus in Wirklichkeit einen tiefsitzenden Antisemitismus vertuschen soll, eine Interpretation, die von den großen kanadischen Parteien geteilt wird. Im Bericht der interparlamentarischen Kommission zur Bekämpfung des Antisemitismus, in der alle kanadischen Parteien außer dem Bloc Quebecois vertreten waren, wurde hervorgehoben, dass der neue Antisemitismus sich als Antizionismus verkleide und das Recht des jüdischen Volkes auf ebenbürtige Mitgliedschaft in der Familie der Nationen negiere. Michael Keefer hat die Kritik von Experten, Aktivisten und kanadischen Organisationen an dieser Einschränkung der Redefreiheit in seiner Sammlung von Artikeln “Antisemitism real and imagined” zusammengefasst.
Als deutsch-kanadische Staatsbürgerin sehe ich mich nicht als Antizionistin, sondern als Aktivistin gegen den Kolonialismus, in Kanada, in Palästina, in Afrika und wo immer unsere Politiker uns auf eine Mission der kulturfördernden Handels- oder Bombenmissionen anführen wollen. Die Bewegung des Zionismus zeigt uns, dass die besten Ideale sich daran messen müssen, wie es den Menschen ergeht, die unter dieser Ideologie leben.
MR: Für mich ist die Palästinafrage eine kolonialistische Frage. Wie sehen Sie das?
ML: Die zionistische Bewegung hatte ihren Ursprung in Europa und kam “im Schatten der britischen Gewehre” nach Palästina, wie Gandhi das formulierte, um ein neues Israel im Land der Palästinenser aufzubauen. Wenn eine Gruppe das Land einer anderen für sich in Besitz nimmt und die einheimische Bevölkerung entweder vertreibt oder abschlachtet und dann auf dem eroberten Land einen eigenen Staat zu errichten, ist das Kolonialismus. Die Rechtfertigungen für diese Invasion sind nur für die Kolonialisten wichtig, weil sie ihre brutalen unmenschlichen Methoden vor sich und den Nachfahren entschuldigen wollen. Die Opfer des Kolonialismus sehen das ganz anders: Sie wurden zu minderwertigen Menschen erklärt, deren Rechte durch die Bedürfnisse der Kolonialisten diktiert werden. Sie haben nur relative Rechte, ihre Geschichte und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Schaffen bis zur Ankunft der Kolonialisten wird ausgelöscht. Hanan Aschrawi hat einmal gesagt, dass der Konflikt gelöst wird, wenn Israeli die Palästinenser als ebenbürtige Menschen ansehen. Anfänglich dachte ich, dass die Lösung der Palästinafrage mit dem Ende der israelischen Besatzung erreicht wird. Inzwischen denke ich, dass der zionistische Kolonialismus in Palästina verschwinden muss und die Geschichte Palästinas am besten als kolonialistische Frage analysiert wird. Bedeutet das die Forderung nach der Zerstörung Israels, wie es von manchen so dramatisch formuliert wird? Ja und nein. Solange Israel ein jüdischer Staat ist, werden die Palästinenser in ihrem eigenen Land als Menschen geringeren Rechtes behandelt. Als jüdischer Staat schützt Israel die Sonderstellung der jüdischen Israelis und der Juden weltweit im Heiligen Land, eine Form der Apartheid, wo der Staat nicht die gleichen Rechte für alle garantiert, sondern den privilegierten Status einer Gruppe schützt.
Wenn man das zionistische Projekt in Palästina als Kolonialismus beschreibt, dann wird die Solidarität mit anderen kolonialisierten Völkern möglich. First Nations aus Kanada nehmen an den Gazaflotillen teil, im isolierten Reservat der Moose Cree First Nations in Ontario wird Palästina selbstverständlich erwähnt. Wenn die Bevölkerung in Kaschmir Steine auf die indische Besatzungsarmee wirft, denken sie an den palästinensischen Widerstand und im Westbankdorf Bilin und in Nachbarorten wird die Zusammenarbeit zwischen palästinensischen, israelischen und internationalen Aktivisten bei den wöchentlichen Demonstrationen als wesentlicher Beitrag zur Fortsetzung des friedlichen Widerstandes gesehen. Zum Schluss noch ein Beispiel aus Kanada:
Ein Teil der Familie von Mike Krebs lebt auf einem Blackfootreservat in der westlichen Provinz Alberta. Krebs nahm an mehreren Veranstaltungen der Idle no more Bewegung teil, die den Jahrhunderte langen Kampf für die souveränen Landrechte der First Nations, für die Rolle als Beschützer des Landes und der Umwelt fortsetzen will. Der Name “Sei nicht länger untätig!” wurde angesichts der stetigen Erosion von indigenen Rechten unter dem konservativen Premierminister Stephen Harper gewählt. Krebs ist ein Aktivist in der pro-Palästina und der Idle no more Bewegung. Er sagt: “ Das Land ist die wirklich wichtige Gemeinsamkeit. Beide Gruppen haben einen tiefgehenden Sinn der Beziehung zum und der Verantwortung für das Land. Und wenn das Land zerstört wird, zerstört das die Kultur.” Krebs zitiert Ben-Gurions Stellungnahme von 1948:’Die Alten werden sterben und die Jungen werden vergessen’ und sagt, dass die kanadischen und die israelischen Regierungen annahmen, dass beide Völkergruppen entweder aussterben oder sich assimilieren würden. “Nun, wir sind nicht alle gestorben oder verschwunden. Wir sind immer noch hier und werden stärker. Es gibt eine politische und kulturelle Wiederbelebung, die Kanada und Israel wahrscheinlich nicht erwartet und gewünscht haben.”
https://psnedmonton.ca/2013/01/30/haaretz-article-on-connections-between-idle-no-more-and-palestine/
MR: Wie wichtig ist die Vernetzung von Menschenrechtsaktivisten, Autoren und Journalisten und warum?
ML: Im Westen wird Israel von den Regierungen, den Medien und den wichtigen Institutionen oft blind unterstützt. Als Israel 2014 Gaza wieder massiv angriff, reisten einige kanadische Parlamentarier aus beiden Häusern nicht nach Gaza oder Ramallah, sondern nach Tel Aviv, um ihre Unterstützung zu zeigen. Die pro-palästinensische Bewegung hat viele Gegner, u.a. in der professionellen Israellobby, muss den Mangel an fairer Information zur Situation der Palästinenser ausgleichen und die Mitmenschen zur Aktion bewegen. Ein Beispiel aus Kanada: Die kanadische Autorin Anne Laurel Carter schrieb 2008 ein Jugendbuch über die Lage in Palästina, The Sheperd’s Grand-Daughter. Das Buch erhielt eine Auszeichnung der Büchereien in Ontario und kann in den Schulen der Provinz als Text gelesen werden. B’nai Brith protestierte beim Erziehungsministerium von Ontario gegen die Aufnahme des Buches in die Liste von empfohlenen Büchern. In Toronto ist das Buch nicht Teil des Lehrplanes, wird aber in anderen Teilen der Provinz in den Schulen gelesen. CJPME, eine pro-palästinensische Lobbygruppe, stellte eine mobile Ausstellung in Zusammenarbeit mit Historikern und Künstlern zusammen, die von Lehrern und Organisatoren bestellt werden kann und wo Kolonialismus und Apartheid in Kanada, Südafrika und Palästina behandelt werden. Wir müssen kreativ und vielseitig sein, um Erfolg zu haben.
MR: Wie sieht es in Kanada aus? Wie viel Hasbara bekämpft die pro-palästinensischen Aktivisten?
ML: In den vergangenen zehn Jahren konnte Israel auf die bedingungslose Unterstützung durch den konservativen Premierminister Stephen Harper zählen. Als 2006 bei einem israelischen Bombenangriff auf einen Uno-Posten im Südlibanon vier Uno-Beobachter getötet wurden, darunter ein Kanadier, richtete Harper seine Kritik gegen die Uno und zeigte vollstes Verständnis für den israelischen Angriff.
Die kritiklose Unterstützung Israels begann aber nicht mit den Konservativen. Auch die große Partei des Zentrums, die Liberalen, haben eine lange Geschichte der aktiven Unterstützung für den Zionismus und für Israel. Das hat wohl ideologische und praktische Gründe. 80% von Kanadas Exporten werden in die USA verkauft. Wenn man in Washington offene Türen finden will, muss man im Nahen Osten mittanzen. Allerdings ging Harper in seiner wohl religiös motivierten fundamental-christlichen Anbindung an Israel für viele Länder zu weit. 2010 verlor Kanada die Wahl für einen Sitz im Sicherheitsrat der Uno an Portugal, obwohl die kanadische Uno-Vertretung angeblich zahllose Ahornsirupglӓser verschenkte!
In Kanada gibt es die offiziellen Organisationen der proisraelischen Lobby. Aber die Vertreter dieser Lobby sind der Öffentlichkeit kaum bekannt, anders als in den USA, wo jeder die Namen der Organisationen wie der ADL(Anti-Defamation League) oder der AIPAC (American Israel Public Affairs Committee) kennt.
Politiker, Journalisten und Hochschulleitungen arbeiten oft Hand in Hand, um Veranstaltungen der pro-Palästina Gemeinde zu verhindern. Mit der wachsenden Popularität der Israeli Apartheid Week seit 2005 kam die verstärkte Kritik von Seiten der Politiker und der Vorwurf des Antisemitismus. In Ontario brachte der konservative Parlamentsabgeordnete Peter Shurman 2010 einen Antrag zur Verurteilung des Begriffes “israelische Apartheid” vor, der mit großer Mehrheit von Liberalen und Konservativen angenommen wurde. 2009 verbot die Universitätsleitung an den zwei Hochschulen in Ottawa ein Poster zur IAW, weil die Darstellung eines Kindes in Gaza, das von einem israelischen Hubschrauber angegriffen wird, nicht die “angeborene Würde” und die Menschenrechte aller Studenten respektiere. Aktivisten kennen diese Sprache: Die Verteidiger Israel argumentieren, dass jüdische Studenten durch solche Aktionen verunsichert und automatisch zur Zielscheibe der Kritik werden. Zionisten und Antisemiten sind anscheinend überzeugt, dass Menschen jüdischen Glaubens automatisch zum nationalen jüdischen Kollektiv gehören und sich nicht von Israels Aktionen distanzieren wollen. In diesem Jahr wurde eine Generalversammlung an der McGill-Universität in Montreal als anti-semitisch bezeichnet, als für ein BDS Antrag gestimmt wurde. Eine Darstellung des palästinensischen Widerstandes im Studentenzentrum an der Universität York veranlasste den Medienmogul Paul Bronfman zur Androhung der Streichung von Fördergelder für Uniprogramme. Und die Teilnahme der Students Against Israeli Apartheid an einer Desinvestitionskampagne gegen Waffenhersteller wurde von einem Sprecher des Friends of Simona Wiesenthal Zentrums als bösartige Kampagne gegen die kollektive jüdische Gemeinde in Kanada beschrieben. Der neue liberale Premierminister Justin Trudeau wiederholte alte israelische Argumente, als er die jüngste Verurteilung der BDS Bewegung durch seine Partei im Parlament begründete: Bestimmte Formen der Kritik an Israel seien nicht legitim, weil sie von den drei Ds motiviert seien, der Delegitimierung, Destabilisierung und Doppelstandards. Die pro-palästinensische Organisation Canadians for Justice and Peace in the Middle East (CJPME), von Mitgliedern des Milieus als anti-israelische Lobby beschrieben, hält die kanadaweiten Vortragstouren vorzugsweise in Kirchen ab, weil es große Probleme mit den Raumzugaben an den Hochschulen gab.
Der eiserne Druck der Israellobby kann auch das Gegenteil bewirken: Die kleineren linken Parteien in Kanada mussten lernen, dass ihre Wähler Israels Angriffe auf Gaza nicht unterstützen und dass Kanadier empört sind, dass ihre Abgeordneten grundlegende demokratische Rechte im Land auf Anweisung einer fremden Regierung beschneiden.
Vor drei Jahren veröffentlichte die Jewish Tribune (JT) ein Interview mit der Vorsitzenden der Grünen Partei. Elizabeth May ist die einzige grüne Abgeordnete in Kanadas Parlament und CJPME hatte sie zu einer Benefizveranstaltung eingeladen. In dem Telefoninterview mit der JT sprach sie von ihrer Unterstützung des Jewish National Fund und distanzierte sich vom CJPME mit dem Argument, die Gruppe sei anti- israelisch. Als das Interview ungekürzt veröffentlicht wurde, wurde May von den pro-palästinensischen Unterstützern der Grünen scharf kritisiert und von CJPME ausgeladen. In den folgenden Jahren zeigte sich allerdings, dass die Lobby einen Pyrrhussieg errungen hatte: Als Paul Estrin, der Präsident der Grünen, während des israelischen Angriffs auf Gaza 2014 eine anti-palästinensische Stellungnahme veröffentlichte, distanzierte sich May von ihm und er musste resignieren. Als die Liberalen und Konservative im Februar mehrheitlich die BDS Kampagne verurteilten, wies May den Beschluss zurück. Sie sagte, dass die Partei sich nicht am Boykott beteilige, die BDS Bewegung aber nicht als anti-semitisch verurteile, dies mit Hinblick auf die Position der United Church in Kanada, die den Boykott voll unterstütze. Einige Tage ging May noch weiter: Sie erstellte eine Petition im Parlament, in der die kanadische Regierung zu einer Abkehr vom Standpunkt der strikten Verurteilung der Boykottbewegung aufgerufen und zu einer gerechten und friedlichen Lösung der legitimen Forderungen und historischen Rechte der Palästinenser im Rahmen der relevanten Uno-Resolutionen aufruft.
Die Palästinafrage ist nach allem Anschein ein wichtiger Faktor bei der Wählerentscheidung bei den beiden linken Parteien, den Grünen und bei der sozialdemokratischen und drittgrößten Partei, der NDP. Unter der Leitung von NDP Chef Thomas Mulcair wurden beim Wahlkampf im vergangenen Oktober acht Kandidaten ausgeschlossen, als ihre Kritik an Israel u.a. von der Konservativen Partei veröffentlicht wurde. Mulcair verlor die Wahl und viele Kanadier erwarten, dass der neue Parteichef eine weniger pro-israelische Linie einhält. Kanadas Israellobby wird freie Hand haben, bis Washington die Beziehung zu Israel verӓndert.
MR: Wie haben Sie in Ihrem Leben den Weg zu den Menschenrechten gefunden?
ML: In meiner Studentenzeit trat ich Amnesty International bei, schrieb Briefe und verteilte Flugblätter in der Fußgängerzone in Freiburg. An sich ist der Einsatz für die Menschenrechte ein nobles Unterfangen. Damals war mir noch nicht bewusst, dass die Verteidigung der Menschenrechte für politische Zwecke manipuliert werden kann. Nach einer jahrelangen berufsbedingten Pause in meinem Engagement hatte ich wieder mehr Zeit zum Lesen und entdeckte die Bücher des amerikanischen Regimekritikers Noam Chomsky. Sein Werk “Fateful Triangle” über Israels Libanonkriege und die amerikanische Sonderbeziehung zu Israel zeigt die verfälschende Berichterstattung vor allem im Bereich der Außenpolitik auf. Um einen Konsensus in der Gesellschaft herzustellen, werden Informationen gefiltert, dass Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen “unserer” Regierungen herabgespielt oder ganz ignoriert werden. Wir werden aber detailliert über die Defekte in den Gesellschaften informiert, die nicht mit Washington alliiert sind. Chomsky spricht von den Opfern, die unserer Hilfe wert sind und Opfer, die unsichtbar bleiben, zumeist, wenn unsere Außenpolitik zu ihrer Misere beigetragen hat.
Vor allem seit der Formulierung der R2P, dem von der Uno formulierten Prinzip der Schutzverantwortung, benutzen die Interventionisten in Washington die Verteidigung der Menschenrechte als Rechtfertigung für brutalen Regimewechsel. Menschenrechtsaktivisten sind dann manchmal die Fürsprecher eines neuen Sendungsbewusstseins, das die von Washington angeführten militärischen Angriffe auf Länder rechtfertigt, vor allem wenn diese nach westlichem Ermessen die Rechte von Frauen, Minderheiten oder der LTGB-Gemeinde verletzen. Ich sehe mich deshalb nicht mehr als Menschenrechtsaktivistin, sondern als politische Aktivistin.
http://promosaik.blogspot.com.tr/2016/05/martina-lauer-eine-deutsche-aktivistin.html